Pro von Jürg Vollmer, Chefredaktor «die grüne»:
Die Schweizer Agrarpolitik gehört auf den Misthaufen
Darf man das überhaupt denken? Und dann auch noch schreiben? Die AP 22+ gehöre auf den Misthaufen. Und mit ihr die gesamte Vierjahres-Aufpfropf-Agrarpolitik und deren riesiges Bürokratie-Monster?
Ich habe es in unserem Fachmagazin «die grüne» getan – und dafür fast nur positive Rückmeldungen bekommen. Mein Kollege Adrian Krebs (s. Beitrag unten) ist also die Ausnahme von der Regel.
Als disruptiven Vorschlag stelle ich eine radikale Idee in den Raum. Weil ich bei null beginne und zudem null Bürokratie will (seien wir realistisch, wenigstens halb so viel Bürokratie), nenne ich meinen Denkanstoss die «Basis null»:
- Jeder Schweizer Landwirt bekommt neu jährlich einen «Basis null»-Beitrag, der die (im Vergleich zum Ausland) teuren Produktionsbedingungen und strengeren Auflagen in der Schweiz abdeckt.
- Dieser jährliche «Basis null»-Beitrag wird berechnet nach der Betriebsgrösse in Hektaren und der Anzahl Nutztiere in GVE.
- Weil sich die Produktionsbedingungen naturbedingt unterscheiden, wird die Beitragshöhe zudem nach Zonen bemessen: Talzone, Hügelzone und Bergzonen.
- Ein Formular, einmal pro Jahr. Punkt. Fertig.
- Als Minimum-Standard gilt die aktuelle Gesetzgebung (Tierschutz, Gewässerschutz usw.). Alles was darunter ist, wird sowieso gebüsst und nach einer Übergangsfrist von den «Basis null»-Beiträgen ausgeschlossen.
- Alle bestehenden Labels können weitergeführt werden, erhalten aber keine Beiträge mehr von Bund und Kantonen. Die Konsumenten bezahlen dem Landwirt den Mehraufwand dafür direkt über den Ladenpreis.
- Zusätzliche Leistungen für Umwelt und Tierwohl können für alle Schweizer Landwirte obligatorisch erklärt werden und werden mit dem «Basis null»-Beitrag abgegolten (der dann auch für alle erhöht wird).
- Importprodukte müssen den Standard «Basis null» erfüllen und werden mit einem ausgleichenden Importzoll belegt, wenn sie trotzdem billiger sind als Schweizer Agrarprodukte.
Die acht Punkte sind radikal, ich weiss, lieber Kollege Adrian Krebs. Aber anders kriegen wir nie eine vernünftige Schweizer Agrarpolitik hin.
Mir blutet jedes Mal das Herz, wenn ich sehe, wie unsere Landwirte tausend Formulare ausfüllen müssen. Und wenn ich daran denke, dass Hundertschaften von Beamten diese Formulare sorgfältig in Bundesordner abheften – um gleich darauf neue Formulare zu erfinden – dann packt mich der heilige Zorn.
Contra von Adrian Krebs, Chefredaktor BauernZeitung:
Zurück an den Start? Ein agrarpolitischer Albtraum!
Klar darf man das, lieber Kollege Jürg Vollmer! Agrarpolitische Denkverbote sind etwa das Letzte, was es braucht. Die Idee, alte Zöpfe abzuschneiden und eine neue Frisur zu bestellen, ist faszinierend. Trotzdem kann ich «Basis null» wenig abgewinnen. Denn die Erfahrung lehrt den alten Chronisten, dass die Schweizer Politik nicht geeignet ist für grosse Würfe, und seien sie noch so knackig formuliert.
Die aktuelle Agrarpolitik ist das Produkt von mindestens dreissig Jahren Denkarbeit und guteidgenössischer Kompromissfindung. Beteiligt waren und sind Heerscharen von Beamten, Landwirtschaftlobbyisten, Wissenschaftlerinnen, Handelsvertretern, Umweltaktivisten und umtriebigen Konsumentinnen. Das Resultat ist ein Flickwerk, aber es widerspiegelt das Machbare und ist gar nicht so schlecht. Ich wage jetzt mal die Behauptung, dass die Mehrheit der Bauernfamilien im Grunde genommen recht gut leben kann mit den aktuellen politischen Rahmenbedingungen. Das ganze Konstrukt von null auf noch einmal neu aufzubauen, wäre ein politischer Albtraum. 20 Jahre später stünden wir dann wieder am gleichen Punkt und ein neuer Jungspund an der Spitze der «grünen» würde den Zweihänder hervorholen wollen. Keine gute Perspektive.
Was die Forderungen von «Basis null» im Einzelnen angeht, bergen sie Fallstricke, die unweigerlich in Sackgassen führen, in denen wir teilweise schon waren. Den Basisbeitrag auf die Anzahl Tiere zu münzen, hätte eine produktionssteigernde Wirkung zu Folge, die im gegenwärtigen Umfeld zu noch mehr gesellschaftlichen Problemen führen würde. Das hatten wir schon mal mit den gestützten Preisen. Mühselig trennte man dann Anfang der 1990er-Jahre die Einkommens- von der Preispolitik und lancierte die Direktzahlungen, die seither regelmässig neuen Anforderungen angepasst werden. Die Fläche als zentrales Kriterium sorgt ihrerseits für einen ungesunden Kampf um Land, wie wir ihn kennen: Ein Problem, das man lösen und nicht noch zementieren sollte.
Dass ein einziges Formular reichen würde, ist eine Illusion, die sich nach kurzer Zeit in Luft auflösen würde. Es sei denn, man statte es mit 500 Seiten aus, aber das wäre dann in Sachen Bürokratieabbau auch wenig zielführend. Realitätsfremdem Wunschdenken entspringt auch die Forderung, sämtliche Labelbeiträge des Bundes zu streichen. Der Handel hat längst bewiesen, dass er nicht in die Lücke springt, wenn der Staat sich nicht mehr an den Mehrkosten beteiligt.
Einig bin ich hingegen mit der Forderung, die wild zusammengewürfelten Vierjahrespakete abzuschaffen. Besser ist es, in kleinen Schritten punktuelle Verbesserungen vorzunehmen. Das mag bieder tönen, liegt aber meilenweit näher am Umsetzbaren als ein radikaler Kahlschlag im Stil von «Basis null».
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Wie müsste eine neue Agrarpolitik aussehen? Teilen Sie uns Ihren Vorschlag in der Kommentarspalte mit!
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