In Rahmen der Agrarpolitik-Serie trafen sich die Bergbäuerin Frieda Steffen und der Talbauer Ruedi Bigler zu einem Gespräch. Auf den ersten Blick scheinen die Unterschiede offensichtlich und die Vermutung liegt nahe, dass die Ansprüche an die Agrarpolitik (AP) deshalb gegensätzlich sind. Dem war jedoch nicht so, im Gespräch kamen sehr viele Gemeinsamkeiten zum Vorschein.

Die Bergbäuerin, Frieda Steffen:
[IMG 3]Sie ist Bergbäuerin, politisierte im Urner Landrat für die CVP und ist Verwaltungsratspräsidentin der Urner Fleisch AG.Frieda Steffen bewirtschaftet einen Bergbetrieb in Andermatt im Kanton Uriin der Bergzone IV auf1440 Metern über Meer,im Sommer weiden ihre Schafe sogar auf bis zu 3000 m ü. M.. Zum Herdenschutz hat die Berg-bäuerin zwei Lamas eingespannt. Auf dem Betrieb vermarktet sie Fleisch-, Fell- und Wollprodukte von ihren Schafen und Lämmern direkt ab Hof.

Der Talbauer, Ruedi Bigler: 
[IMG 2] Er ist Landwirt, Präsident der Aaremilch und Vorstandsmitglied der Branchenorganisation Milch (BOM). Christine und Ruedi Bigler bewirtschaften einen vielseitigen Betrieb in Moosseedorf im Kanton Bern mit Milchkühen, Milchviehaufzucht, Schweineaufzucht und -mast, Ackerbau und Energieproduktion. Auf dem Betrieb arbeiten auch die Tochter und der Sohn von Biglers, zwei Mitarbeiterund zwei Lehrlinge. Biglers führen ab und zu Personen über den Betrieb und zeigen ihnen, wie sie arbeiten.

BauernZeitung: Was haben eine Bergbäuerin und ein Talbauer gemeinsam?

Frieda Steffen (FS): Ich bin überzeugt, dass Ruedi und ich beide Freude an unserer selbstständigen Arbeit, an der Natur und am verantwortungsvollen Umgang mit den Tieren haben. Ausserdem tragen wir dem Boden und der Natur Sorge. Hätten unsere Vorfahren das nicht bereits getan, hätten wir heute nichts mehr, was schützenswert wäre. Und nach diesem Prinzip wollen wir das Land auch an unsere Nachkommen übergeben.

Ruedi Bigler (RB): Da kann ich mich Frieda nur anschliessen. Wir haben den Boden nicht von unseren Eltern geerbt, sondern haben ihn von unseren Nachfahren geliehen. Der Boden ist unser wertvollstes Gut, zu dem müssen wir Sorge tragen. Weiter haben wir einen sehr spannenden Beruf mit extrem hohen Herausforderungen, die jährlich grösserwerden. Früher sagte man, der Dümmste bleibt zu Hause und wird Bauer. Heute ist es es eher umgekehrt, nur noch die Cleversten können meiner Meinung nach den Beruf ausüben.

Was unterscheidet Sie?

FS: Die grössten Unterschiede sehe ich betreffend Klima, Vegetation, Bodenbeschaffenheit und -nutzung.

RB: Ihr Bergbauern geniesst mehr Sympathie seitens der Bevölkerung als wir Talbauern. Wir stehen mehr in der Kritik.

FS: Das mit der Sympathie istrelativ. Wir müssen dafür ein gewisses Heidi-Land-Gefühl befriedigen. Ausserdem denken die Touristen, dass die Wiesen und Alpen Allgemeingut sind und nehmen alles in Beschlag.

Themenwechsel: War es richtig, dass die AP 22+ sistiert wurde?

FS: Es war richtig und wichtig, dass sie sistiert wurde. Die Sistierung brachte eine gewisse Ruhe. Man sollte die AP-Zyklen evaluieren und erst danach einen Schritt weiter gehen. Wir können doch nicht jedes Mal eine neue Strategie fahren. Anpassungen z. B. beim Tier-und Gewässerschutz brauchen Zeit.

RB: Ich bin froh, wurde die AP sistiert. Sie hätte Gebiete benachteiligt, die es heute bereits sind. Das sind graslanddominierte Regionen, wie etwa das Entlebuch oder das Emmental. Und der Vorschlag war viel zu kompliziert. Ich denke da an die graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion. Auf grosse Kritik stösst in bäuerlichen Kreisen auch die Vorschrift betreffend Anzahl Abkalbungen.

Was sind die grössten Schwächen des aktuellen Systems?

FS: Durch die Direktzahlungen (DZ) sind wir erpressbar. 5 % der Bevölkerung werden durch die Steuergelder der restlichen 95 % finanziert. Das bekommen wir natürlich zu spüren. Gerade im Berggebiet, wo relativ viele Direktzahlungen hinfliessen, wird dadurch, wie ich bereits vorgängig erwähnt habe, alles zum Allgemeingut.

RB: Ich möchte es noch extremer formulieren: DZ haben die gleichen Auswirkungen auf uns Bauern wie Drogen. Sie machen uns süchtig. Sie machen uns abhängig. Sie machen uns krank – und sie machen uns erpressbar. Unser Dilemma ist, dass es uns Bauern fast besser ginge mit weniger oder gar keinen DZ. Nur geht das nicht, weil unsere Preise die Kostenwahrheit nicht widerspiegeln. So kommen wir ohne die Droge nicht über die Runden.

Das Beste, was uns passieren könnte, wäre, wenn die Lebensmittel wieder einmal knapp und sie dadurch einen anderen Stellenwert und Preis bekommen würden.

FS: Genau. Ich will auch weniger DZ, dafür einen gerechten Preis für unsere Produkte.

RB: In der Vergangenheit wurde durch die AP die Landwirtschaft zunehmend extensiviert. Eine extensive Landwirtschaft bedeutet nicht per se, dass sie klimafreundlich ist oder die Ressourcen schont. Es braucht eine hohe Professionalität in unserem Berufsstand, dass wir unseren Job auch in Zukunft gut machen und qualitativ gute Lebensmittel produzieren können.

Was würden Sie tun, wenn die DZ abgeschafft würden?

RB: Das ist eine sehr abstrakte Idee und in der Schweiz undenkbar. Nichtsdestotrotz hat sie etwas Faszinierendes, im Sinne von «der befreite Bauer». Wir müssten das Geld am Markt abholen. Aber machen wir uns nichts vor, viele Bauern würden auf der Strecke bleiben. Zudem werden im Ausland die DZ sogar immer wichtiger.

FS: Trotz der grossen unternehmerischen Freiheit würden die Ämter sicher Wege finden, weshalb wir Bauern gewisse Dinge nicht tun dürften (lacht). Ich sehe vor allem für schlecht oder nicht erschlossene Betriebe im Berggebiet schwarz. Da stellt sich dann wohl am Ende die Frage: Was ist günstiger, DZ oder Sozialhilfe?

«Die Leute wollen ein Heidi-Land-Gefühl.»

Frieda Steffen über die Erwartung der Touristen.

Wie würden Sie die AP gestalten, wenn Sie das in Eigenregie tun könnten?

RB: Das Geld sollte wieder vermehrt an die Arbeit statt an die Fläche gebunden sein. Derjenige, der gute Arbeit leistet, sollte auch besser entschädigt werden. Mit dem heutigen System werden Betriebstypen gefördert, bei denen kaum eine Leistung erbracht und zunehmend auch mit geringer Professionalität gearbeitet wird. Die Limite pro Standardarbeitskraft (SAK) von 70 000 Franken sollte meiner Meinung nach deshalb unbedingt beibehalten werden. Zahlungen ans Produkt gekoppelt und nicht an die Fläche, sind das Richtige, so wird auch dieArbeit entschädigt.

Wie wichtig ist der Selbst-versorgungsgrad?

RB: Es sollte ein höherer Selbstversorgungsgrad angestrebt werden. Es ist gefährlich, wenn man meint, man könne jederzeit alles importieren. Covid hat uns das erst kürzlich gelehrt.

Ich habe das Gefühl, dass wir in der Schweiz zunehmend unter Wohlstands-Verblödung leiden (grinst). Viele haben dasGefühl, wir können uns alles kaufen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass wieder einmal andere Zeiten kommen und wir feststellen müssen, dass wir Geld nicht essen können.

FS: Ich unterstütze das voll und ganz. Den Selbstversorgungsgrad finde ich auch aus ökologischer Sicht wichtig. Das Stichwort heisst hier: aus der Region für die Region. Wir sparen Transportkilometer ein, und wirwissen sogar, unter welchen Sozial- und Umweltstandards die Produkte produziert wurden. Unsere Konsument(innen) haben hohe Ansprüche, leider wollen sie im Laden aber nicht dafür bezahlen.

Wie hoch sollte der Selbstversorgungsgrad konkret sein?

FS: 80 %. Ich weiss, gewisseDinge wie z. B. Avocado würdees dann nicht mehr geben.Wir müssten unsere Palette etwas einschränken. Doch auch Schweizer Bäuerinnen und Bauern haben viele innovativeProdukte im Angebot, die einerAvocado ebenbürtig sind.

RB: 80 % wären schön, meiner Meinung nach aber utopisch. Wie bereits gesagt, der Selbstversorgungsgrad soll steigen statt noch mehr sinken, wie es in der AP 22+ vorgesehen war.

«Pflanzenesser sind Rosinenpicker.»

Ruedi Bigler über Leute, die auf Fleisch verzichten.

Momentan wird oft überErnährungspolitik, also einen umfassenden Ansatz, diskutiert. Wie sieht so ein System Ihrer Meinung nach aus?

RB: Ich kann mir schlecht vorstellen, dass die Politik den Konsument(innen) vorschreiben kann, was sie essen dürfen und was nicht. Dass man ihnen hingegen beibringt, was hier wächst und was wann Saison hat, finde ich wichtig und richtig. Darunter fällt auch die Tatsache, dass 70 % der Schweiz Grasland sind. Nur Tiere können dieses in hochwertiges Protein umwandeln. Wer sich rein pflanzlichernähren will, ist meiner Meinung nach ein Rosinenpicker, weil dieses Essen nur auf allerbestem Kulturland wächst. Um diese Böden ertragsfähig zuhalten, müssten sie ab und zubegrünt werden. Folglich sollten Personen, die sich verantwortungsvoll ernähren wollen, ab und zu etwas Fleisch oder gleich Gras essen.

FS: Letzteres hab ich probiert, es geht leider nicht (beide lachen herzhaft).

Ein Wort zum Schluss?

RB: Ich muss noch kurz auf die administrative Vereinfachung zu sprechen kommen. Fakt ist: Es wird jeden Tag nur noch komplizierter. Wenn man etwas dagegen tun möchte, müsste man wahrscheinlich das ganze System sprengen.

Damit wäre auch meine Aussage vom Anfang bestätigt. Es braucht viel Cleverness, um sich im System Landwirtschaft zu behaupten.

Die AP-Serie der BauernZeitung: Braucht es in der Agrarpolitik den grossen Wurf oder nur den richtigen Kompromiss? In einer Serie gehen wir der Frage nach und sprechen mit Praktikern, Politikerinnen und Land-wirtinnen über ihre Ideenfür die Zukunft. Alle bisher erschienen Artikel im Rahmen der AP-Serie finden Sie hier.