Worin unterscheidet sich Ihr Fachgebiet Agrarökologie von der klassischen Agronomie?

Johanna Jacobi: Wir forschen zur Anwendung von ökologischen Prinzipien in der Landwirtschaft. Agrarökologie gibt es im globalen Süden schon ziemlich lange – als Wissenschaft, als Praxis und auch als soziale Bewegung. Dabei geht es nicht nur um ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch um soziale Gerechtigkeit und eben bäuerliche Landwirtschaft, die auch wirtschaftlich lohnend sein muss. Was ich ganz wichtig finde und was in der Agronomie kaum berücksichtigt wird, ist die Diversität. Nicht nur Biodiversität, sondern auch soziale und kulturelle Diversität. Die Biodiversität ist viel besser geschützt, wenn es verschiedene Ernährungstraditionen hat. 

Inwiefern?

Im Raum Zürich zum Beispiel war das landwirtschaftliche Land noch vor wenigen Jahrzehnten voller Obstbäume, voller Beerensträucher, voller verschiedener Sorten Nüsse. Diese hatten alle ihre Rolle im Ernährungssystem. So hat man das ganze Jahr über Beeren gegessen, getrocknet, gekocht, eingemacht, als Sirup, als Marmelade. Die Agrarökologie schaut immer das ganze Ernährungssystem an.  [IMG 2]

Die Hochstamm-Obstbäume sind weitgehend verschwunden. An welche Ernährungstraditionen kann die Agrarökologie in der Schweiz noch anknüpfen?

In meiner Forschung schaue ich immer, was möglich ist. Und da treffe ich gerade in der Schweiz immer wieder auf junge Leute, die ganz stark auf altem Wissen aufbauen und dieses mit neuen Erkenntnissen verbinden. Es gibt da eine lebendige Szene von Leuten, die mit Agroforst arbeiten. Natürlich ist das nicht die breite Masse, aber meine Forschung schaut an, was die Alternativen sein könnten, damit wir eben nicht vor dieser Alternativlosigkeit stehen. 

Reichen solche Kleinprojekte aus, um das Ernährungssystem zu ändern?

Klar ist im grossen Ganzen die Lage hochdramatisch. Wir sehen einen ökologischen Zusammenbruch. Aber immer mehr Leute werden sich dessen bewusst und wollen raus aus dieser Falle, immer mehr produzieren und dafür immer mehr investieren zu müssen, bis es nicht mehr geht. Man sieht ja an den Bauernprotesten, dass die immer intensivere Landwirtschaft in eine Sackgasse geraten ist. Wenn es nicht mehr weitergeht, muss man umdenken. Man besinnt sich auf das, was früher war, und überlegt sich, was es sonst noch geben könnte.

Was kann die Schweiz dabei von den Ländern des Südens lernen?

 [IMG 3]Ich habe lange in Bolivien gelebt und bin immer noch stark mit Lateinamerika verbunden. Die Agrarökologiebewegung ist dort viel stärker im Widerstand, gegen diese riesigen Sojafelder, gegen den Landraub, gegen die Entwaldung, gegen die sehr schlechte Ernährung mit zum Teil 60 Prozent Übergewicht in den Städten. Das ist wirklich eine Widerstandsbewegung, aber sehr ökologisch ausgerichtet. Die Leute dort haben begriffen, dass ihnen niemand helfen wird, wenn ihre Lebensgrundlage erst einmal zerstört ist. Es darf nicht sein, dass die internationalen Getreidehändler die ganze Marge abschöpfen und die Bauern und die Ökosysteme leiden. 

Auch in Europa organisieren sich die Bauern. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Dass sich die Proteste in der Schweiz stärker auf die vor- und nachgelagerten Sektoren konzentrieren, gibt Hoffnung. Es ist schon lange überfällig, dass sich die Landwirtschaft organisiert. Es bringt aber nichts, wenn sie sich wie in den EU-Ländern vor allem gegen ökologische Richtlinien auflehnen. Auch die Galgen-Symbolik hilft nicht weiter.

Welche Perspektiven haben die Proteste?

Die Landwirte müssen sich mit den Akteuren auf der Konsumentenseite verbünden, denen Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit wichtig sind. Gemeinsam kann man es schaffen, die Profiteure entweder zu umgehen oder zumindest so viel Druck zu erzeugen, dass es endlich Transparenz und gerechte Preise gibt, und zwar sowohl für Erzeuger als auch für Konsumenten. Es kann ja nicht sein, dass gesunde Nahrung etwas ist, das man sich leisten können muss.

Akteure wie Coop, Migros oder Fenaco haben ihre Wurzeln doch im Genossenschaftsgedanken.

Aber heute funktionieren sie als Grossunternehmen. In der Agrarökologie untersuchen wir eher, wie Alternativen um solche Machtkonstrukte herum aufgebaut werden können – etwa durch die direkte Vernetzung von Produzenten und Konsumenten. Ich persönlich versuche schon, möglichst ohne Supermarkt zu leben.

Die Modernisierung der Landwirtschaft hat es ermöglicht, ein Vielfaches an Kalorien pro Quadratmeter zu produzieren und damit viel mehr Menschen zu ernähren. Spielen solche Rechnungen in der Agrarökologie eine Rolle?

Die Grundannahmen sind bei uns anders. Es geht nicht um Kalorien, sondern um echte Nahrungsmittel. Wir schauen nicht den Ernteertrag einer einzelnen Kultur an, sondern betrachten die Landwirtschaft als multifunktionales System. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Polykulturen fast immer produktiver sind als die Monokultur, im Ertrag, aber vor allem, wenn man die Energiebilanz anschaut. Die industrielle Landwirtschaft bezieht viele Faktoren gar nicht erst in ihre Berechnungen ein.  [IMG 4]

Wird der technologische Fortschritt eine zugleich ökologischere und doch effizientere Landwirtschaft ermöglichen?

9. Nachhaltigkeitstagung der Agroscope Bei der Nachhaltigkeitstagung stand die Agrarökologie im Zentrum Friday, 28. January 2022 Vielleicht, aber bisher bleibt viel auf Ebene der Versprechungen. Seit Jahrzehnten wird gesagt, «das wird uns helfen und retten», aber dann ist alles viel langsamer und sehr viel weniger innovativ, als man denken könnte. Die Saatgutfirmen in Bolivien erzählten mir vor zehn Jahren, dass sie in zehn Jahren Super-Saatgut hätten, das weder Dünger noch Pestizide brauche und auf jedem Boden produzieren könne. Das Gegenteil ist eingetreten, der Pestizid- und Düngemitteleinsatz steigt und die Erträge stagnieren oder sinken sogar.  

Ist eine intensivere Produktion, die auf Digitalisierung und pflanzliche Nahrung setzt, eine Alternative?

Wir brauchen dringend gute Technologien, die Arbeitsschritte erleichtern und mit Mischkulturen umgehen können. Aber die ökomodernistischen Ansätze der industriellen Landwirtschaft bereiten mir Sorge. Die Vegan-Bewegung geht zum Teil auch in diese Richtung. Essen aus dem Labor, ultraprozessierte Nahrung, Abschaffung der Tierhaltung, Landwirtschaft ohne Bauern – das ist aus agrarökologischer Sicht keine gute Perspektive. Ich finde es schlimm, dass wir die Höfe verlieren und immer weniger Menschen in der Landwirtschaft arbeiten. Wenn wir keine Menschen mehr haben, die wissen, wie man ein Tier hält und pflegt, dann ist das eine Katastrophe. Und es besteht die Gefahr, dass Ökologie vorgeschoben wird und als Schockdoktrin dazu dient, ganz andere Interessen auf undemokratische Weise durchzusetzen. Natürlich müssen wir alle viel ökologischer werden, aber sicher nicht nur die Landwirtschaft, und das geht nur mit der Natur, nicht gegen sie.