Nach dem Wolfsangriff auf einen Sechsjährigen in den Niederlanden erhält die Diskussion um die Gefährlichkeit des Raubtiers auch in der Schweiz neue Aktualität. «Bisher trat alles ein, was ich voraussagte», sagt der wolfskritische Biologe und Buchautor Marcel Züger.
Praxis in der Schweiz anders
«Was in Holland geschah, war ein Fehler, der hier in der Schweiz nicht möglich ist», sagt dagegen Nationalrätin Franziska Ryser (Grüne, SG). Die Gefahr durch Wölfe sei in der Geschichte grösser dargestellt worden, als sie tatsächlich sei. «In der Schweiz sterben jedes Jahr zwei Menschen an Bienen – und die Wahrscheinlichkeit, auf der Strasse überfahren zu werden, ist ebenfalls höher», versucht sie das Risiko zu veranschaulichen. Züger bestätigt, dass die Praxis in der Schweiz eine andere ist als in den Niederlanden. Gerade deshalb fordert er weitere Massnahmen: «Wir brauchen eine Pufferzone, damit falsch sozialisierte Wölfe aus Deutschland oder Holland nicht einwandern.»
Am 6. August diskutierten die beiden in St. Gallen auf Einladung des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verbandes (SAV) über den Wolf – moderiert von Ernst Wandfluh, Landwirt und Präsident SAV. In Marcel Zügers Vortrag überwogen stimmige Bilder der Kulturlandschaft, von in Zäunen verendeten Wildtiere, und Arten, die der Wolf gefährde.
Unterstützung von grüner Seite
Auf Franziska Rysers Folien überwogen Bilder von Wölfen mit Hundeblick. Ryser kritisierte die Bejagung und forderte weniger Polemik in der Debatte. Für Marcel Züger bietet die Schweiz Platz für fünf bis 12 Rudel, für Franziska Ryser für 40.
Einigkeit herrschte darüber, dass die Situation das Alppersonal stark belastet. «Ich bin bereit, euch hier zu unterstützen», sagte Franziska Ryser. «Ich komme gerne auf dich zu», antwortete Ernst Wandfluh.
Nach Wolfsangriff im Spital
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In den Niederlanden griff ein Wolf ein Kind an und schleifte es in den Wald. Umstehende vertrieben das Tier mit Stockschlägen. Der sechsjährige Junge wurde mit Biss- und Kratzwunden am ganzen Körper im Spital behandelt.
Ins Gebüsch gezerrt
Laut dem niederländischen Fernsehsender RTL News ereignete sich der Vorfall am 30. Juli an einem belebten Ausflugsziel nahe Utrecht. Hier habe der Wolf den sechsjährigen und etwa 1,28 m grossen Jungen unter der Achsel gepackt und ihn ins Gebüsch gezerrt. Zwei umstehende Männer seien dem Wolf nachgesprungen und hätten ihn mit Stöcken geschlagen. Der Wolf habe zuerst gezögert zu fliehen, mit Anwendung von «echter körperlicher Gewalt» habe man ihn aber vertreiben können.
Der Junge wurde aufgrund seiner Verletzungen in das Universitätsklinikum Utrecht gebracht – neben einer grossen, tiefen Wunde wies er Verletzungen an Rücken, Seite, Brust und im Gesicht auf. Laut Aussage des Vaters gehe es ihm «den Umständen entsprechend gut». Die Familie will künftig in einem anderen Wald spazieren gehen. Der dreijährige Bruder, der beim Angriff dabei war, soll den Vorfall ebenfalls verarbeiten können.
Die niederländischen Behörden raten derzeit, Wald- und Naturgebiete zwischen der A12 und der A28 bei Utrecht zu meiden. Das rund 45 Quadratkilometer grosse Gebiet gilt als Aufenthaltsort des Wolfes.
«Versehentlich» gebissen
Laut den niederländischen Behörden handle es sich beim Tier mit hoher Wahrscheinlichkeit um den sogenannten Problemwolf mit der Bezeichnung GW3237m – «Bram». Bram sei bereits in der Vergangenheit mehrfach auffällig geworden und habe unter anderem diesen Mai einen Wanderer «versehentlich» ins Bein gebissen. Gegen das Tier liegt eine Abschussverfügung vor, die in der Vergangenheit erfolglos von Wolfschutzverbänden angefochten wurde.
Gescheitertes «Management»
Die Organisation Gruppe Wolf Schweiz (GWS) reagierte umgehend mit einer Medienmitteilung auf den Vorfall: Durch Störung im Kerngebiet des Rudels habe man die Wölfe in das beliebte Ausflugsgebiet abgedrängt, durch falsches Verhalten habe der Problemwolf keine negativen Erfahrungen mit Menschen gemacht und darum seine Scheu verlernt: «Mit dem richtigen Verhalten wäre er nicht zu dem geworden, was er ist.»
Laut GWS sei es jedoch unumgänglich, solche auffälligen Wölfe aus der Population zu entfernen. Eine Jagd auf Wölfe sei aber weiterhin sinnlos, weil sie unselektiv sei und zu keinem Lerneffekt bei den Wölfen führe.
Und er greift doch Menschen an
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Kommentar von Peter Walthard
Die Befürworter einer Koexistenz von Wolf und Mensch verlieren erneut an Glaubwürdigkeit. Was als «Rotkäppchengeschichte» verlacht wurde, ist in den Niederlanden Realität geworden: Ein Kind wurde von einem Wolf angefallen. Das Tier versuchte, das Kind in den Wald zu schleppen. Nur zwei mutige Männer mit Stöcken konnten das Schlimmste verhindern. Ganz wie im Märchen.
Der Naturschutzbiologe Marcel Züger, der in seinem aktuellen Buch vor solchen und ähnlichen Vorfällen warnt, wurde als «Kaktus-Biologe» verspottet. Der kanadische Wildtierforscher Valerius Geist wurde gar zum Verschwörungstheoretiker erklärt, weil er Angriffe auf Menschen für wahrscheinlich hielt.
Bis zuletzt hatten Naturschutzorganisationen versucht, den Abschuss des Problemwolfs zu verhindern. Das kritisiert sogar die Gruppe Wolf Schweiz, die mittlerweile Abschüsse von Problemwölfen befürwortet. Und doch klingt ihre Mitteilung so, als sei alles nur ein bedauerlicher Unfall, eine Verkettung unglücklicher Umstände, ein Fehler im System: «Mit dem richtigen Verhalten der Menschen wäre GW3237m nicht zu dem geworden, was er ist.»
Zu erklären wäre, weshalb ein Raubtier, das von Hasen über Schwarz- und Rotwild bis hin zu Büffeln und Elchen alles jagt, was ihm vor die Läufe kommt, ausgerechnet vor kleinen Menschen Halt machen sollte. p.walthard@bauernzeitung.ch
