Wie steht es um die Selbstversorgung der Schweiz? Wovon und vor allem wie sollen wir uns künftig ernähren? Und welche Rezepte hat die Schweiz, wenn sie sich die voranschreitende Globalisierung vor Augen führt, die sich aktuell auch noch im Umbruch befindet. Mit diesen und vielen weiteren Fragen hat sich ein breites Publikum aus der Land- und Ernährungswirtschaft diese Woche an der Fachkonferenz Brennpunkt Nahrung in Luzern befasst. Die BauernZeitung wollte wissen: Ist der Anlass für die Bäuerinnen und Bauern überhaupt von Relevanz oder sind die Inhalte zu weit weg vom Alltag der Bauernfamilien?
Wir haben dazu mit Reto Ryser gesprochen, der am Anlass teilnahm. Der 26-Jährige lernte ursprünglich Schreiner und arbeitet aktuell als Agronom im Bereich Pflanzenbau bei IP-Suisse. Er plant, den elterlichen Betrieb in Ramsen SH zu übernehmen.
Was waren Ihre Erwartungen an diesen Anlass?
Reto Ryser: Ich will neugierig bleiben. Daher erscheint es mir wichtig, aus der eigenen Bubble rauszukommen und in diesem Sinne über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets zu blicken. Daher habe ich vom Anlass auch eine gewisse Inspiration und Erweiterung des Geistes erhofft.
Was gefiel Ihnen am besten?
Ich beginne gleich mit dem Schluss der Tagung. Der letzte Vortrag mit dem Titel «Anstiftung zum Andersdenken» von Peter Kreuz war sehr spannend. Aus seinen Ausführungen ging etwas ganz deutlich hervor. Für eine Weiterentwicklung braucht es Zeit. Und diese Zeit müssen wir uns nehmen. Oft rennen wir dem Tagesgeschäft auf dem Bauernhof hinterher und nehmen uns dabei zu wenig Zeit, um die Frage zu beantworten, wo wir überhaupt hinwollen. 80 % ist Tagesgeschäft und 20 % bleibt für anderes. Ich denke, dass die erste Zahl auf vielen Bauernhöfen meist noch höher liegt. Wir sollen uns aber konkret Zeit nehmen, uns unserer Ziele und Stärken bewusst zu werden. Daraus können wir dann auch ableiten, was wir künftig nicht mehr machen. Es stellt sich doch die Frage, muss ich wirklich allem hinterherrennen? Oder kann ich mich auch bewusst von etwas abwenden?
Das sind sehr philosophische Themen. Gab es für Landwirte auch handfeste Infos – zum Beispiel vonseiten Handel?
Ja, natürlich. Zum Beispiel im Bereich der Verfügbarkeit. Man muss sich als Landwirt bewusst machen, dass genau das im Handel ein wichtiger Fakt ist. Und es hilft, das stets im Hinterkopf zu halten, insbesondere dann, wenn es um Engpässe geht. Davon kann die Landwirtschaft auch im Bereich der Produktionsmittel betroffen werden. Frank Arendt von der Migros ist ganz intensiv auf diese Verfügbarkeit eingegangen. Die Migros ist eine der grössten Kundinnen der Schweizer Landwirtschaft. Wir sind daher gut beraten, wenn wir mit Kundinnen wie der Migros gemeinsam Lösungen finden. Und das heisst auch, dass wir die Produktion so ausrichten, dass solche grossen Kunden in der Schweiz das finden, wonach sie suchen.
Glauben Sie denn nicht, dass es der Migros egal ist, wo sie die Rohstoffe beschafft? Im Ausland dürfte sie ja unter Umständen deutlich günstiger einkaufen.
Es ist ein Preiskampf, das ist klar. Ich glaube aber nicht, dass man bei der Migros ein ernstes Interesse hat, die Schweizer Landwirtschaft zu bodigen. Die Beschaffung im Ausland ist nicht einfach so garantiert. Das ist das eine, und der Preis natürlich das andere. Wir haben aber gerade an diesem Anlass erfahren, dass es auch gegenteilig laufen kann. Martin Keller von der Fenaco nannte in seinem Referat ein gutes Beispiel. Er erwähnte, dass aufgrund der schlechten Ernte Kartoffeln aus dem Ausland beschafft werden müssten. Und diese Kartoffeln seien teurer als die in der Schweiz eingekauften. Hier muss ich noch ergänzen, dass ich ganz klar der Meinung bin, dass der Preis rauf muss, wenn das Angebot sinkt oder eben tief ist.
Martin Kellers Vortrag kam bei den Zuhörer(innen) laut Rückmeldungen mehrheitlich gut an. Was nehmen Sie von seinen Inhalten konkret mit?
Martin Keller betonte, dass wir offen für Neues sein müssten. Das ist für mich ein entscheidender Punkt. Der Klimawandel ist real. Im Bereich einer sicheren Produktion könnten neue Technologien hier einen grossen Beitrag leisten. Wir müssen uns gegenüber diesen neuen Technologien öffnen – und zumindest darüber diskutieren können. Wie Keller erwähnte, gehören dazu zum Beispiel die Robotik, aber auch neue Züchtungsmethoden.
Ein wichtiges Thema, das in mehreren Vorträgen angeschnitten wurde, ist die Selbstversorgung. Was nehmen Sie in diesem Bereich konkret mit?
Der Gedanke, dass wir mit dem Essen nach Ernährungspyramide und Reduktion von Food Waste einen Selbstversorgungsgrad von rund 80 % erreichen könnten, ist spannend. Da sind noch weitere Zahlen, die uns zum Denken anregen müssten. Laut Agroscope werden 37 % aller Lebensmittel weggeworfen, Diese Nahrungsmittelverluste seien für einen Viertel der Treibhausgase und für 28 % der Biodiversitätsverluste verantwortlich. Ausserdem wurde die Bestäubungsleistung der Biodiversität mit einem Preisschild ausgestattet. Mit solchen Vergleichen habe ich stets etwas Mühe.
Wie meinen Sie das?
Der Biodiversität einen Geldwert zu geben, macht mich skeptisch. Das ist, als ob wir unsere Lebensgrundlage mit Geld beziffern könnten. So ein Vorgehen empfinde ich als äusserst heikel. Am Anlass wurde zum Beispiel auch über die Bestäubungsleistung gesprochen, die hernach in Millionen von Franken beziffert wurde. Das gibt den Anschein, als ob wir einen entsprechenden Verlust mit Geld wieder gutmachen könnten. Wir können nicht – und sollten meiner Meinung nach auch nicht – allem einen Geldwert geben. Stattdessen sollten wir dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt. Für mich ist irrelevant, was es kostet, wenn die Menschheit weiter überleben will.
Der Selbstversorgungsgrad wird in der Schweiz im aktuellen System unter 50 % sinken. Die Gesellschaft wünscht sich laut Fenaco aber einen Wert von rund 70 %. Was sagen Sie zu dieser Diskrepanz?
Genau in diesem Punkt habe ich mir konkret die Frage gestellt, wie dieser Wert ermittelt wurde. Ohne einen Hintergrund zu nennen, wie die Fenaco genau auf diesen Wert kommt, war das Ganze für mich etwas aus der Luft gegriffen. Unabhängig vom Wert müssen wir uns sicherlich bewusst machen, dass sich alle immer selbst am nächsten stehen. Zum anderen sollten wir uns vor Augen führen, was der Begriff Selbstversorgung überhaupt bedeutet.
Und wie?
Das ist recht einfach. Wenn wir etwas zubetonieren, dann produzieren wir an genau dieser Stelle ganz konkret nichts mehr. Das ist sehr endgültig. Wenn ich aber zum Beispiel Biodiversitätsförderfläche anlege, dann kann ich im Jahr darauf den Pflug nehmen und auf dieser Fläche Kartoffeln anpflanzen.
Wir könnten ganz konkret mehr produzieren. Und zwar mittels Intensivierung. Wie stehen Sie dazu?
Mit einem extrem hohen Input mehr zu produzieren, insbesondere dann, wenn wir die Produktionsmittel aus dem Ausland beschaffen, geht für mich nicht auf. Wir müssen uns Gedanken machen und Wege finden, wie wir eine höhere Selbstversorgung hinkriegen, wenn wir weniger Input leisten.
Damit sprechen Sie die ganze Kraftfutterproblematik an.
Kann man. Ich habe in diesem Moment aber an den Ackerbau gedacht, wo auch meine grossen Interessen liegen. Wir produzieren kein einziges Kilogramm Stickstoff-Kunstdünger in der Schweiz. Weiter wird die Mehrheit der Pflanzenschutzmittel importiert. Das sind im Pflanzenbau die beiden wichtigsten Faktoren. Es werden auch diverse andere Dünger wie Kali oder Phosphor importiert. Diese werden irgendwo auf der Welt abgebaut und sind damit endlich. Hier stellt sich mir dann konkret die Frage, wollen wir Selbstversorgung jetzt und damit auf Teufel komm raus, oder wollen wir sie langfristig? Das müssen wir beantworten. Ich bin für den zweiten Weg.
Nachhaltig also. Weltweit geht der Trend in Richtung mehr Fleischkonsum, warum sollte genau die Schweiz das Gegenteil machen?
Das ist eine schwierige Frage, die mich selbst auch sehr beschäftigt. Hier gibt es diverse andere Beispiele, man muss nicht einmal unbedingt immer über Fleisch sprechen. Indische Airlines beschaffen Hunderte von Flugzeugen. Die Welt muss also unweigerlich mit einem steigenden Flugverkehr rechen. Wir Europäer haben diese Probleme durch den Wohlstand, den wir haben, kreiert. Mittlerweile erreichen aber auch andere und deutlich grössere Länder eben diesen Wohlstand. Diese Probleme werden nicht weniger. Das heisst für mich aber nicht, dass wir hier einfach nichts tun und auf die Verantwortung der anderen pochen. Für mich ist klar, wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen, denn wir haben das Wissen eines besseren und nachhaltigeren Weges erlangt.