Der mysteriöse Vorfall passierte am 19. November 2021. Als Adrian Tanner morgens mit seinem Hund in den Stall geht, zeigt der sich ungewöhnlich nervös. Beim Blick in die Abkalbebox dann der grosse Schock. Das Kalb darin ist tot und am After angefressen, ansonsten scheint es unverletzt. Aber es ist ganz frisch tot, der Körper ist noch warm, es scheint, als hätte Tanner den Eindringling vertrieben.
Ein rätselhafter Tod
Was geschehen ist, bleibt ein Rätsel. Kampfspuren sind keine zu sehen. Am Abend nach dem Melken wurde die Mutter in der Herde gelassen, das Kalb blieb alleine in der Abkalbebox zurück – im Nachhinein war das wohl ein Fehler. Das Muneli ist wenige Tage alt und springt am Abend beim Misten munter umher. Der Hof liegt nahe dem Dorf Belp im Kanton Bern, aber auch direkt am Waldrand, und es ist bekannt, dass dort Luchse jagen. Wenige Tage später werden wenige Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Gürbetals, Schafe vom Wolf gerissen. Waren es bisher nur Gerüchte, steht nun fest, auch Lupus sucht erneut in dieser Gegend sein Futter. Doch wer hat nun das Kalb auf dem Gewissen?
Private DNA-Probe
Der herbeigerufene Wildhüter nimmt keine DNA-Probe, obwohl auch er den Angriff nicht einordnen kann. Er schneidet den Hals auf und findet Zahnabdrücke, der Angreifer hat zumindest zum Kehlbiss angesetzt. Adrian Tanner könne das Kalb im Tierspital untersuchen lassen, sei es aber vom Fuchs angefressen worden, müsse er die Kosten selbst tragen, wird ihm beschieden. «Das Kalb war ja eh tot, warum hätte ich diese Kosten riskieren sollen?», fragt Adrian Tanner im Gespräch mit der BauernZeitung und zuckt mit den Schultern. Die Theorie des Wildhüters, das Muneli sei verendet und dann vom Fuchs angefressen worden, will aber weder dem Landwirt noch Thomas Knutti recht einleuchten. Knutti, der die Vereinigung zum Schutz von Wild- und Nutztieren vor Grossraubtieren im Kanton Bern präsidiert, veranlasst die Entnahme einer DNA-Probe und schickt sie dem Forensischen Institut Forgen in Hamburg.
Keine Spur von Fuchs
Nun liegt das Resultat der DNA-Analyse vor. Forgen hält ausdrücklich fest, dass in den eingeschickten Proben keine DNA von Füchsen gefunden wurde. Dafür haben laut den Speichelrückständen mindestens zwei Vertreter der Familie der Canidae am Tier gefressen, einer davon männlich. Ob Wolf oder Hund, das kann die Analyse nicht mit Sicherheit eingrenzen. «Wildernde Hunde gab es hier vielleicht noch vor zwanzig Jahren», betont Adrian Tanner auf die Frage, ob Hunde für ihn infrage kommen. Tanners Hund verbringt die Nacht im Wohnhaus, er kommt als Täter auch nicht infrage. Wer oder was ist also in den Stall eingedrungen und hat das Kalb getötet oder gar lebendig angefressen? Dass ein gesundes Kalb über Nacht einfach tot umfällt, scheint unwahrscheinlich.
Wie Kühe schützen?
Thomas Knutti vermutet auf Anfrage der BauernZeitung, dass man vonseiten Wolfsbefürworter unbedingt verhindern will, dass Angriffe von Wölfen auf Rindvieh ans Tageslicht kommen: «Man macht es sich natürlich einfach, wenn man bei solchen Zwischenfällen keine DNA-Probe entnimmt», betont er. Man habe sich kürzlich mit der Stiftung für Raubtierökologie und Wildtiermanagement (Kora) zu Gesprächen getroffen, und dabei sei klar geworden, Herdenschutz sei bei Rindvieh nicht möglich. Sollten sich die Wölfe auf Rinder spezialisieren, seien die Landwirte demgegenüber machtlos. Insbesondere gegen Eindringlinge, die sich gar in den Stall wagen.
Artgerecht und gefährlich
Während im Sinne einer artgerechten Haltung offene Ställe und Weidehaltung gefordert werden, drohen dort vermehrt Angriffe durch Raubtiere. Und mit etwas Pech bleiben die Tierhalter danach wie Adrian Tanner ohne Entschädigung und mit vielen offenen Fragen zurück. Tanners Abkalbebox ist draussen in einer Scheune. An der frischen Luft und mit viel Licht geniessen dort Kuh und Kalb die ersten Stunden und Tage artgerecht. «Ich kann doch hier keine Festung mit Mauern bauen», betont Tanner. Er werde jedoch künftig kein Kalb mehr alleine dort lassen, sondern es direkt in den Kälberstall bringen. Solange die Mutter dabei sei, drohe hoffentlich keine Gefahr. «Verhindern können wir solche Angriffe wohl nicht. Vermutlich müssen wir in Zukunft solche Sachen einfach hinnehmen», meint er nachdenklich und zuckt mit den Schultern.