Als sie den Traktor hört, versucht Fatima auf die Beine zu kommen. Vorne schafft sie es zur Hälfte, hinten streiken ihre Beine. Routiniert eilen ihr Andreas und Therese Buri zu Hilfe. Die Struppen trägt die Kuh schon um den Bauch. Diese hängen sie an den Frontlader und mit nur wenig Hilfe vom Traktor steht Fatima. Wacklig, aber sie steht, lässt sich kraulen und flattieren. «Man sieht, wie sehr diese Kuh leben will und das gibt uns die Kraft, dass wir sie nicht aufgeben», sagt Andreas Buri aus Boll im Kanton Bern und fügt an: «Vierzehn unserer Kühe haben wir in den letzten Tagen verloren, eine fünfzehnte soll es wenn möglich nicht werden.

Durch das Geschehene zu Experten für Botulismus geworden 

Schwankend aber willig trottet Fatima über ihre Weide und frisst Gras. «Solange sie fressen und die Zunge nicht gelähmt ist, haben sie eine Chance», ergänzt Therese Buri. Die beiden sind in den vergangenen Wochen unfreiwillig Experten für Botulismus geworden. Begonnen hat alles am 30. August, als morgens ein relativ frisch gekalbtes Rind in der Liegebox festlag. Der Tierarzt kam, machte die üblichen Einläufe. Abends hatte sich das Rind zwar in der Liegebox gedreht, konnte jedoch weiterhin nicht alleine aufstehen. Eine weitere Kuh schaffte es nur mit Mühe von der Weide nach Hause und legte sich unterwegs immer wieder hin. Beim Melken gab eine andere Kuh keine Milch und speichelte stark. Alle drei Kühe wurden vom Tierarzt behandelt. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Symptome sah aber zu diesem Zeitpunkt niemand einen Zusammenhang zwischen den Fällen. Am Morgen dann die Katastrophe. Zwei Tieren ging es so schlecht, dass man sie nur noch einschläfern konnte, das dritte brachten sie umgehend ins Tierspital. Dann die Diagnose: Buris Kühe leiden an Botulismus. Nach und nach erkrankten zwanzig Tiere, litten an Bauchkrämpfen, speichelten stark, zeigten Lähmungserscheinungen. Die einen mehr, die andern weniger. Nicht alle haben gleichviel Gift aufgenommen.

Die schwierige Entscheidung, einschläfern oder nicht

«Zuerst realisiert man das gar nicht richtig, was sich um einen herum für eine Tragödie abspielt», blickt Andreas Buri zurück. Richtig gemerkt hätten sie es ob der Reaktionen aus dem Umfeld. Sie selber hätten einfach nur funktioniert. Tiere aufgestellt, Wassereimer zu den festliegenden Tieren geschleppt und den Tierarzt gerufen, wenn es hoffnungslos war. «Das war das Schwierigste, zu entscheiden, wann es Zeit war, die Tiere einzuschläfern. Einige haben ewig gekämpft und immer wieder den Kopf gehoben, versucht zu fressen oder aufzustehen. Bei anderen ging es relativ schnell, dass sie gelähmt auf der Seite lagen und aufgaben», blickt Therese Buri zurück. Der absolute Horrortag sei zehn Tage später gewesen. Zwar hätten sie dann endlich den Impfstoff bekommen, jedoch mussten sie an diesem Tag auch drei Tiere erlösen. 

 

Wie entsteht Botulismus?

Im Futter oder in Lebensmitteln können Clostridium-botulinum-Bakterien das hochgiftige Bo­tulinumtoxin produzieren. Dafür braucht es sauerstofffreie Bedingungen und einen eiweissreichen Nährboden. Beim ­Menschen sind unzureichend sterilisierte Konserven, Einmachgläser oder Fleischwaren gefährdet. Das Botulinumtoxin führt zu Lähmungen und bei Tieren meist zum Tod. Beim Menschen gibt es ein nicht ganz harmloses Gegengift. Umgangssprachlich wird auch von einer Fleischvergiftung gesprochen.

Lähmung der Atmung

An Botulismus können Rinder, Schafe, Pferde, Nerze und Vögel erkranken. Das Schwein ist relativ resistent gegen das Gift. Pferde, Rinder und Schafe erleiden eine Lähmung der Muskulatur des Bewegungsapparates, der Kau- und Schluckmuskeln sowie der Atemmuskulatur. Schliesslich sterben sie an einem Atemstillstand. Die Sterberate ist bei unbehandelten Tieren sehr hoch. Beim akuten Verlauf tritt der Tod nach ein bis zwei Tagen ein.

Ansteckung und Verbreitung

Erreger ist das Bakterium Clostridium botulinum, das zwingend in sauerstofffreier Umgebung leben muss. Da auch der Pansen der Kuh sauerstofffrei ist, kann es sich dort vermehren und über eine längere Zeit das Gift ausscheiden. Das Botulinumtoxin zirkuliert im Blut und bindet sich an die Nervenbahnen, wo es irreversible Schäden hinterlässt. Die Milch von erkrankten Kühen kann bedenkenlos getrunken werden. Die Bakterien können auch Sporen bilden, die den Kontakt mit Sauerstoff überdauern sowie resistent gegen Hitze, Gefriertemperaturen und Austrocknung sind. Die Tiere können sich insbesondere über Silage und Heu anstecken, welche mit Kadavern von Kleintieren verunreinigt sind. Auch Trinkwasser kann verseucht sein. 

Silage als Quelle

Die Bedingungen für die Vermehrung von Clostridium botulinum sind in Silage günstig, da das Bakterium nur in sauerstofffreier Umgebung wachsen kann. Gerade bei der Silage gilt, je länger das Futter gelagert wird, desto mehr kann sich das Gift darin ausbreiten. Die Menge des Gifts nimmt also gerade in älteren Silagen deutlich zu. Werden diese ausserdem über den Futtermischwagen verteilt, können rasch ganze Viehbestände vergiftet werden. Bei wachsenden Viehbeständen ein grosses finanzielles Risiko, das nicht versichert ist. Bei Heuballen besteht die Chance, dass der Kadaver austrocknet und die Sauerstoffzufuhr gross genug ist, das die Bakterien sich nicht ausbreiten können. Neben der akuten Form gibt es auch den chronischen Verlauf. Sie beschreibt eine wenig erforschte Form der schleichenden Erkrankung, die vor allem in der Rinderhaltung auftritt. Die Tiere leiden unter Verdauungsstörungen, Lähmungen und magern ab. Viele erkrankte Tiere sterben. 

Es gibt keine Behandlung - nur Schmerzbekämpfung

Morgens früh bis in die späten Nachtstunden betreuen sie die kranken Tiere. «Wenn sie dich so anschauen mit grossen Augen und du kannst ihnen nicht helfen, das ist furchtbar», fasst Andreas Buri die schlimmen Stunden zusammen. Therese ergänzt: «Wir haben diese Kühe alle selbst gezüchtet und dann mussten wir sie auf so furchtbare Weise sterben sehen». Behandlung gibt es keine, nur Schmerzmittel gegen die Krämpfe. Ist das Toxin einmal im Körper, muss dieser selbst damit fertig werden. Im anaeroben Pansen bleiben die Keime lange aktiv und können zu Rückfällen führen. Das haben auch Buris beobachtet. Die Genesung der Tiere verlief nicht linear. Einige waren schon wieder relativ fit und zeigten dann erneut starke Lähmungserscheinungen. Auch Fatima war vor ein paar Tagen aktiver, lief im Stall umher und wurde sogar zwischendurch gemolken. Doch dann lag sie wieder im Stallgang fest. Jetzt bleibt sie auf der Weide, gezeichnet von der Krankheit. Sie wird alle paar Stunden mit dem Frontlader auf die Beine gestellt, damit sie fressen kann und die Verdauung hoffentlich wieder in Schwung kommen kann. 

Die zu erwartenden Langzeitschäden sind unklar

Auch eine weitere Kuh ist noch nicht fit, hat einen steifen Nacken und rollt beim Laufen den Rücken auf. «Aber schau, sie putzt sich mit der Zunge die Nase», sagt Andreas Buri erleichtert, «wenn sie das wieder können, ist es ein gutes Zeichen». Doch diese Kuh ist hochträchtig. Wie es dem Kalb in ihrem Bauch geht und wie sich die Lähmungserscheinungen auf die Geburt auswirken werden, das kann niemand voraussagen. Die Kühe hätten alle unter starker Verstopfung gelitten, da das Gift auch die Därme lähme und die Verdauung sich verlangsame. Deshalb hätten sie die Kühe immer wieder auf die Weide gestellt, dass sie nasses Gras fressen können und so Wasser aufnähmen, da sie viel zu wenig tranken. 

Ein Fuchs wird als Verursacher vermutet

Das Gift kam vermutlich aus einer Grassiloballe. Alle anderen Quellen wie die Kraftfutterstation, die Maissilage, das Dürrfutter oder das Wasser konnten ausgeschlossen werden, da nur die Kühe erkrankten und nicht die Pferde oder Kälber. In der Parzelle, welche sie siliert hatten, habe es einen Fuchsbau. Buris vermuten, dass dort ein Kadaver um den Bau herum lag. Doch mit Gewissheit werde man es nie wissen. Es sei sicher nichts Grosses gewesen, sonst hätte der Futtermischwagen das Gift so verteilt, dass alle Kühe gestorben wären. Was bleibe, sei die Angst, jedes Mal wenn sie eine Siloballe öffneten. Da helfe die Gewissheit, dass die Tiere nun geimpft seien und das werde man auch künftig beibehalten. Die jährliche Impfung koste rund zehn Franken pro Tier. «Wir sind hier in der Agglomeration, es hat viele Hunde, wir lesen viel Unrat und Spielzeug auf unseren Wiesen zusammen», erzählt Andreas Buri.

Es gibt eine Impfung zum Schutz vor Botulismus

Aufgeschreckt durch ihren Fall würden nun in der Region auch andere Betriebe ihre Tiere impfen. Neben den körperlichen und emotionalen Strapazen wiegt auch der finanzielle Schaden für die Familie schwer. Botulismus ist durch keine Versicherung abgedeckt. So müssen sie die toten Kühe ersetzen, die hohen Tierarztrechnungen bezahlen und den Ausfall der Milch verkraften. «Wir erleben unglaublich viel Unterstützung und Solidarität», erzählt Therese Buri. «Sogar Menschen, die wir gar nicht kennen, bieten uns Kühe an oder wollen etwas spenden» Und in der schweren Zeit, als die viele Arbeit und die schlaflosen Nächte an der Kraft zehrten, hätten sie Familie und Freunde tatkräftig unterstützt. «Das Unglück hat uns alle zusammengeschweisst, so dass wir nie ans Aufgeben dachten. Und wenn Fatima wieder richtig auf den Beinen ist und wir durchatmen können, werden wir allen nochmals richtig Danke sagen, die uns beigestanden haben», betont Andreas Buri.