Alle tun es, ununterbrochen. Doch kaum jemand ist sich im Alltag seines Atems bewusst. «Wir haben den Atem nicht auf unserem Schirm», sagt Delia Schreiber, Psycho- und Atemtherapeutin aus Männedorf ZH. «Er läuft meist einfach so nebenher mit. Oft nehmen wir den Atem erst wahr, wenn er aus irgendeinem Grund ins Stocken gerät.»

Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Körperliche Beschwerden wie Asthma oder Schmerzen, aber auch psychische Beeinträchtigungen wie Stress und Schock, Depressionen und Ängste.

Jede Minute atmen wir im Durchschnitt 16 Mal. Im Laufe eines Tages verbrauchen wir so an die 12 000 Liter Luft, im Laufe eines Lebens sind es 300 Millionen Liter. Ganz schön viel. Kein Wunder, hat unsere Lunge zwischen 200 und 600 Milliarden Lungenbläschen. Aufgespannt, würden sie die Fläche eines Tennisplatzes füllen. Diese Lungenbläschen vergrössern und verkleinern sich beim Atem – das sehen wir auch von aussen, wenn sich Brust und/oder Bauch beim Atmen bewegen.

Atmen ist für uns Menschen essenziell. Haben wir Probleme damit, löst das in der Regel Angst aus. «Der Atem ist die Schnittstelle zwischen verschiedenen Hirnbereichen, aber auch zwischen Körper und Psyche. Atem ist immer auch mit Gefühlen verbunden», weiss Delia Schreiber. Diesen Sommer erschien ihr Ratgeber-Buch «Bewusst freier Atmen» mit viel Hintergrundwissen und 50 praktischen Atemübungen.

Die Nase bringts

Bewusstes Atem ist nicht auf eine Atemtherapie beschränkt. Es kann uns auch helfen, mit den Widrigkeiten des Alltags klar zu kommen. «Die Leute kommen mehr zu sich selbst, sind besser mit sich verbunden, gewinnen Selbstwertgefühl. Das Atmen kann uns helfen, unbewusste Inhalte bewusst zu machen. Man bekommt ein anderes Atemmuster und damit auch eine andere Haltung.»

Doch wie können wir ganz konkret die Kraft des Atems für unser Wohlbefinden nutzen? Ein erster wichtiger Punkt ist ganz einfach: Durch die Nase atmen.

Nasenatmung bringt viele Vorteile. Zum einen wird die Luft dabei befeuchtet, gereinigt und erwärmt. Zum andern kann unser Körper nur bei der Nasenatmung Stickstoffmonoxid bilden. Das Gas hilft unter anderem, Entzündungen zu hemmen.

Der zweite Punkt ist eigentlich auch sehr einfach. Er erfordert aber volle Aufmerksamkeit, was in unseren meist übervollen Tagesabläufen bereits eine Herausforderung sein kann: Wir wenden uns bewusst dem Atem zu.

Fünf Atemzüge reichen

Delia Schreiber schlägt folgende Einstiegsübung vor:

Stellen Sie sich einen Timer vor, der Sie alle zwei Stunden aus dem alltäglichen Trott holt. Dafür gibt es zum Beispiel Gratis-Apps für das Handy.

Schenken Sie ihrem Atem während fünf Atemzügen ihre volle Aufmerksamkeit. Dabei keine SMS lesen, nicht an was anderes denken, mit niemandem reden. Nur auf den Atem achten.

Es braucht nicht viel

«Im Atem liegt ein Schatz» so Delia Schreiber. «Sich im Alltag alle zwei Stunden einen Moment lang bewusst dem Atem zu zuwenden, bringt schon viel: Von mehr Freude und Energie bis zu erholsameren Schlaf und erfüllterem Sex.»

Aufwendige Atemübungen zu Fixzeiten vergisst man oft, oder man empfindet sie als langweilig. Kurze Atem-Aufmerksamkeitsübungen wie hier beschrieben, lassen sich hingegen unauffällig in den Alltag integrieren, zum Beispiel im Bus, am Schreibtisch, im Bad oder in der Küche.

«Wenn wir den Atem bewusst wahrnehmen, aktivieren wir das Atemprogramm im Hirn. Wir beginnen, langsam und tief zu atmen statt flach und schnell.» Für Körper und Psyche ist das ein Zeichen für den Ruhemodus: Es besteht keine Gefahr, wir können uns entspannen. «Nasenatmung und mehrmals täglich bewusst atmen: Beides zusammen ist schon die halbe Miete. Wichtig ist, kontinuierlich dran zu bleiben.»

Richtig atmen?

Kann man denn «richtig» oder «falsch» atmen? «Sowohl als auch», erklärt Delia Schreiber. Die Pioniere der Atemtherapie wie Karlfried Graf Dürckheim oder Ilse Middendorf vertraten die Theorie, dass man den Atem fliessen lassen soll wie er kommt. Frei nach dem Grundsatz: «Es atmet mich». Es gibt aber Situationen, in denen es hilft, die Atmung bewusst zu steuern: Immer wenn es heisst, «jetzt erst einmal tief durchatmen».

Tief heisst nicht viel

Tief heisst dabei nicht, möglichst viel Luft aufzunehmen. Es geht darum, tief in den Bauch zu atmen und bewusst langsam auszuatmen. Dadurch wird der Vagus-Nerv im Hirn angesprochen. Er verästelt sich von dort bis zu den Organen und bringt unser System in die Entspannung.

Muss man daran glauben, dass es nützt? Nein, westliche Atemtherapie-Methoden wirken nachweisbar auf Körper und Psyche. Das haben Delia Schreiber und ihr Kollege Roger Stutz vor einigen Jahren in einer wissenschaftlichen Arbeit aufgezeigt. «Wer einmal gelernt hat, wie sich der Atem bewusst und
gezielt einsetzen lässt, besitzt ein Werkzeug, das ihn sein Leben lang begleitet. Man muss es nur hervorholen und anwenden.»

 

 

Neue Bücher zum Thema

Delia Schreiber
Bewusst freier atmen
Alte Atemmuster heilsam verändern
208 Seiten,
Beobachter Edition

Jessica Braun
Atem
Wie die einfachste Sache der Welt unser Leben verändert
362 Seiten, Kein & Aber