«Wir haben Vorräte für mehrere Wochen zu Hause. Einfach mal schnell einkaufen, geht bei uns nicht», erzählt Christof Mattli (55). Der Bauer aus Leidenschaft, wie er selbst von sich sagt, wohnt ganzjährig auf der Göscheneralp UR, wie fünfzehn andere Personen auch. Alle, mit einer Ausnahme, heissen mit Nachnamen gleich wie er. «Nach dem Lawinenwinter von 1951 zogen viele weg, nur noch die Mattlis blieben.» Der Wohnort ist im Winter zu Fuss, per Schneetöff oder Pistenfahrzeug erreichbar. Manchmal auch gar nicht, wenn die Strasse wegen zu grosser Lawinengefahr gesperrt ist. [IMG 5][IMG 5]
Christof Mattli macht sich abfahrtbereit für einen rasanten Ritt auf dem Schneetöff.
Heiliger Matthias beschützt vor Lawinen
Wild und verwegen sieht Christof Mattli aus, wie er auf seinem Schneetöff sitzt, eine Krumme im Mund. Ein richtiger Schnee-Cowboy, der statt die Sporen Gas gibt. Während der rasanten Schneetöff-Fahrt von Göschenen Abfrutt zur Göscheneralp hält er immer wieder an und zeigt auf Lawinenabgänge. Mattli ist auch Lawinenbeobachter für das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos GR. Während dieser Fahrt, Mitte Februar, herrscht laut Lawinenbulletin die Gefahrenstufe «erheblich». Doch die Lawinen sind alle schon unten und es ist kalt. Mattli muss auf seinem Heimweg etliche Lawinenkegel durchqueren. «Hier ist es sicher, da vorne schon nicht mehr. Beim Fahren schaue ich immer die Bergflanken hoch. Wann etwas kommt, musst du Gas geben.»
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Auf der Fahrt in die Göscheneralp quert Christof Mattli mit dem Schneetöff mehrmals einen Lawinenkegel.
Lawinen beobachten
Damit ab 1. November bis Winterende zweimal am Tag ein zuverlässiges Lawinenbulletin herausgegeben werden kann, unterhält das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos GR ein Netz von zirka 200 Lawinen-Beobachterinnen und -Beobachtern, die im Alpenraum und im Jura stationiert sind.
Einige von ihnen übermitteln, wie Christof Mattli, täglich Schneedaten und Einschätzungen der Lawinensituation von ihrem Messfeld aus. Andere machen Meldungen über die Verhältnisse im ganzen Gebiet, in dem sie regelmässig unterwegs sind. Vielfach führen sie auch Schneedeckenuntersuchungen, wie Schneeprofile und Stabilitätstests, durch. Weiter melden Bergführer und Tourengänger Informationen und Beobachtungen aus den Regionen, in denen sie gerade unterwegs sind. Die gesammelten Daten werden von jeweils drei der acht Lawinenwarnerinnen und -warnern beim SLF zum Lawinenbulletin verarbeitet.
Seit 1945 ist das SLF im Auftrag des Bundes für die Lawinenwarnung zuständig.
Weitere Informationen:
www.slf.ch
Plötzlich wird Christof Mattli ganz ernst: «Laut Überlieferung sind eigentlich nur Auswärtige in Lawinen gestorben.» Auf der Göscheneralp ist der 24. Februar, der Matthias-Tag, ein relativ hoher Feiertag. Der heilige Matthias ist der Schutzpatron der Lawinen. Und auch sonst hätte man hier mehr Feiertage gehabt als anderswo; angefangen beim Stefanstag, zu Sebastian, Agatha, Sankt Antöni, den Josefstag, ... «Es sind ganz viele Heilige als Schutzengel beteiligt. Wir haben eine Menge Helgenstöckli im Tal.»
Lawinen beobachten ist eine Familienangelegenheit
Seit sechs Jahren meldet Christof Mattli Schneedaten und Lawinenbeobachtungen nach Davos. Er hat das Amt sozusagen in Blutlinie geerbt. «Als im Tal der Staudamm gebaut wurde, musste dieser pausenlos überwacht werden. Das machten zwei meiner Onkel als Dammwarte. Mit der Zeit kam noch die Lawinenbeobachtung hinzu.» Als die Dammüberwachung automatisiert wurde, ging die Lawinenbeobachtung an einen anderen Onkel über. «Zum Mattli Max, der ebenfalls Bauer war.» Als dieser seinen Hof verkaufte und wegzog, landete das Amt dann irgendwie bei Christof Mattli.
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Blick vom Stall Richtung Staumauer.
«Wenn ich am Morgen vom Wohnhaus zum Stall hinabsteige, merke ich, ob ich einsinke, sehe, was das Wetter macht, und ich mache mir bereits meine ersten Gedanken.» Doch bevor der Bauer zur Messstation geht, kontrolliert er immer zuerst den Stall. Dort stehen acht bis zehn Brown-Swiss-Kühe plus sechs bis acht Rinder und Kälber, die er mit der eigenen Milch mästet. Stolz erzählt Mattli, dass er gerne züchtet und mit einigen seiner Tiere schon gute Plätze belegt habe.
Manchmal sind die Strassen nicht passierbar
Mit den Mastkälbern sei das so eine Sache: «Ist die Strasse wegen Lawinengefahr nicht passierbar, kann es vorkommen, dass die Kälber zu schwer werden. Das gibt dann Abzug.» Aber das sei dann eben, wie es sei. Heute Nachmittag wird er mithilfe seines Göttibuben Philipp, oder besser gesagt Göttimanns, wie er lachend korrigiert, mit dem Pistenfahrzeug und Anhänger zwei Tiere nach Göschenen transportieren.
Die Messstation ist gleich neben dem Stall. Wer elektronische Apparaturen erwartet, wird enttäuscht. Eine weisse, unberührte Schneefläche präsentiert sich da. Vom SLF hat Christof Mattli ein Seil bekommen, um die Stelle abzustecken, doch seine Umrandung ist eingeschneit. «Bei Messstationen im Skigebiet, wo es viele Touristen hat, ist die Umrandung plus Hinweisschild: ‹Kein Betreten der Messstelle› wichtig.» Ausser seiner Familie kommt hier niemand vorbei. «Nur den Kühen muss ich hie und da sagen, dass sie nicht drauftreten dürfen», meint er grinsend.
Lawinenbeobachter machen handfeste Messungen
Eine Messstange und zwei dünne Metallstäbe lassen erahnen, dass auf der Fläche etwas gemessen wird. Mit Metallzylinder und Bolzen, ein Gewicht in Stabform, bewaffnet, schreitet Christof Mattli zur Tat. Jeweils vier Daten muss er ermitteln. «Ich mache das manuell und visuell», erklärt der Fachmann. Die Schneehöhe gesamt liest er an der Messstange ab. Heute liegt sie bei 1,62 m. «2,44 m sind mein gemessener Rekord. Mein Onkel Paul mass am 4. April 1975, das war ein Lawinenwinter, sogar 4,05 m! Ich bin jedoch froh, wenn ich keine Rekordwerte verkünden muss. Dann ist nämlich fertig lustig.»
Die Neuschneemenge ermittelt er mithilfe eines Kunststoff-Tablars, das im Schnee liegt und zugeschneit wird. Zu ihm gehören die dünnen Metallstäbe, dank denen Mattli es wieder findet. Der Wert heute: 16 cm. «Wenn es über 10 cm Neuschnee gegeben hat, muss ich den Schnee noch wägen.» Dafür braucht er den Metallzylinder. Wie mit einer Guetzliform sticht er aus dem Neuschnee auf dem Tablar eine bestimmte Menge Schnee aus, die er dann wägt. «Je nach Gewicht sagt der Wert etwas über den Wassergehalt des Schnees aus; je schwerer, desto nasser.» Zum Schluss lässt er den Bolzen plumpsen. «Wenn es im Schnee irgendwo eine Eisschicht hat, geht er nicht weit hinein.» Heute versinkt der Bolzen gut.
Familie Mattli will nirgends anders wohnen
Jeden Tag um 6.30 Uhr telefoniert Mattli seiner Frau Annelies. Er gibt ihr die Daten und seine eigene Einschätzung der Lawinengefahrenstufe sowie allfällige Beobachtungen von Lawinenabgängen durch. «Wir machen den Job im Teamwork. Ich erledige die Feldarbeit, Annelies macht die Arbeit am Computer.» Einmal in der Woche leitet die Bäuerin die Daten auch nach Andermatt UR, zur kantonalen Meldestelle, weiter.
Fragt man Annelies und Christof Mattli, ob sie nicht lieber anderswo wohnen würden, an einem Ort ohne ständige Gefahr vor Lawinen, verneinen beide. Sie seien sich kein anderes Leben gewohnt. Annelies wuchs in Spiringen UR auf, da kommt man nur mit der Seilbahn hin. Auch die vier Söhne Andreas, Michael, Thomas und Tobias, alle im Alter von 20 bis 26 Jahren, scheint das Leben hier zu behagen. Sie kommen an den Wochenenden gerne inklusive Freundinnen nach Hause. Neuerdings ist sogar das erste Enkelkind dabei.
Manchmal hat es Vorteile, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein
Manchmal habe es auch Vorteile, wenn die Verbindung zum Rest der Welt gesperrt sei, erzählt Mattli. Zum Beispiel dann, wenn das Einrücken ins Militär grad nicht so passt. «Von der Gemeinde konnte ich mir offiziell bestätigen lassen, dass es zu gefährlich sei, den Weg zurückzulegen.» Wäre ein Besuch beim Schatz auf dem Programm gestanden, hätte er das Risiko aber auf sich genommen, gibt Christof Mattli eine weitere Anekdote zum Besten.
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Bei Christof Mattli gehören Lawinen zum Leben dazu.
Unterdessen ist Mittag. Zeit, den Schneetöff erneut zu starten und zu Annelies hinauf zu fahren.
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