Frau Guanzini, was hat Zärtlichkeit mit Philosophie zu tun?
Isabella Guanzini: Für mich hat die Zärtlichkeit eine Bedeutung, die über das Private hinausgeht. Sie kann eine gesellschaftspolitische Kraft sein. Für mich ist die Zärtlichkeit eine sanfte Macht, die unsere Abwehrhaltung anderen gegenüber auflösen kann.
Es ist ungewohnt, so über Zärtlichkeit zu sprechen ...
Das fällt auch mir nicht leicht. Es ist fast schon ein politisches Engagement. Ich bin mir bewusst, dass eine starke Hypothek auf dem Wort liegt. In der Öffentlichkeit über Zärtlichkeit zu sprechen, klingt für viele sentimental und süsslich.
Warum ist das so?
Zärtlichkeit wird als Schwäche angesehen. Oder wir betrachten sie als ein Zusatz für das Privatleben, für das Familiäre. Zärtlichkeit wird mit Kuscheln gleichgesetzt, und wie wir mit Kindern umgehen. Doch eine Zärtlichkeit, die sich nicht in der Gesellschaft verbreitet und den Alltag verändert, hat für mich keine Bedeutung. Sie ist wie eine unerträgliche Melasse.
Warum brauchen wir eine Zärtlichkeit, die über das Private hinausgeht?
Mir ist bewusst, dass diese Kategorie der Zärtlichkeit nicht zum Zeitgeist passt. Der Begriff könnte sogar als Provokation aufgefasst werden. Doch diese Zärtlichkeit kann mit ihrer feinen Wahrnehmung eine Art Gegenmittel sein gegen die Coolness und Härte unser Gesellschaft.
Wie meinen Sie damit?
Die Zärtlichkeit entspricht für mich der Wahrnehmung der Fragilität des Lebens, der Verletzlichkeit und der Sterblichkeit. Für mich ist sie etwas anderes als Empathie, Mitleid oder Liebe. Denn mein Fokus liegt auf der Ähnlichkeit der menschlichen Erfahrungen, auf unserem Zusammenleben auf dieser Erde. Daher denke ich, dass diese Zärtlichkeit heute noch eine Bedeutung hat.
Sie schreiben, dass die Zärtlichkeit auch etwas Revolutionäres hat ...
Stimmt. Denn die Zärtlichkeit hat auch etwas Kämpferisches, selbst wenn sie sehr sanftmütig wirkt. Revolution findet meiner Meinung nach im Alltag statt. Denn mein Ideal der Politik ist sehr elementar: Sie kommt nicht von oben, von der Regierung. Vielmehr ist jeder Mensch in der Lage, etwas zu ändern, mit seinem Handeln und seiner Sprache. Wir sind frei, etwas Neues anzufangen.
Wenn wir also im privaten Kuschelmodus bleiben, bewirken wir nichts im Aussen?
Genau. Dann ist es, als ob wir keinen Anspruch darauf haben, die äussere Welt zu ändern. Mein Ideal wäre, dass die Zärtlichkeit eine politische Macht darstellt, die sich in den Strassen zeigt. Und an unseren Arbeitsplätzen. So dass sich etwa die Seele einer Stadt langsam, Tag für Tag, transformieren könnte.
Was können wir konkret tun?
Unsere Sprache hat eine tiefe Wirkung. Sie kann die Welt zerstören oder sie aufbauen und den Alltag verwandeln. Zum Beispiel, indem man keine leeren oder aggressiven Worte verwendet. In dem wir zuhören. In dem wir genau hinsehen.
Was braucht es dazu?
Ich glaube, dass die Erziehung der Sprache und des Denkens schon ein wichtiger Beitrag ist. Ich habe in Italien zehn Jahre Philosophie an einem Gymnasium unterrichtet. Dabei versuchte ich den Schülern eine Sprache zu vermitteln, mit der sie ihre Affekte benennen können, ihre Gefühlsbewegungen.
Wie bringt uns das weiter?
Über Angst, den Hass oder den Ärger zu sprechen, ist schon ein Schritt gegen die Gewalt. In diesem Sinne ist Zärtlichkeit in der politischen Wirklichkeit ein Lernprozess. Wir alle sind aufgerufen, diesen Lernprozess anzufangen. Vielleicht klingt das sehr elementar. Doch genau auf der Ebene der elementarsten Beziehungen, wenn wir entweder traurig oder froh sind, können wir die Welt ändern. Konkret, von Mensch zu Mensch und nicht nur durch abstrakte politische Äusserungen.
Schwächt das nicht unsere Leistungsfähigkeit?
Ich bin selbst eine leistungsorientierte Frau. In bin Dozentin an der Universität, habe Karriere gemacht . Ich weiss was es bedeutet. Doch geht es nur um Macht und um Leistung, führt dies oft zu Traurigkeit und Erschöpfung. Die Hauptfrage ist daher für mich: Hat das, was ich mache, einen Sinn? Ich denke nicht, dass Zärtlichkeit eine Schwäche darstellt, im Gegenteil. Es geht auch um das Bewusstsein der eigenen Grenzen, der eigenen Impotenz: Wir können nicht alles tun. Es gibt auch eine Erfahrung des Nicht-Tuns oder des Unterlassens, die sehr befreiend ist.
Brauchen wir mehr Zeiten in denen wir nichts tun?
Ich bin ja auch Theologin. Meine Idee ist, dass die Ruhe des Sabbat ein wichtiges Erbe der jüdischen Tradition darstellt. Heute ist selbst unsere Freizeit gefüllt mit Aktivitäten und Erlebnissen. Wir haben Angst davor, auf uns selbst zurückgeworfen zu sein. Ruhephasen können uns helfen, über uns selbst nachzudenken.
Wie helfen uns solche Ruhephasen?
Wir brauchen diesen Moment der Leere, um den Kontakt mit uns selbst nicht zu verlieren. Wir brauchen sie, um eine gewisse Distanz zwischen uns und unserem Tun zu schaffen. So haben wir die Möglichkeit, uns selbst nach dem Sinn unseres Tun zu fragen, unserer ursprünglichen Sehnsucht. Aber manchmal haben wir Angst vor genau diesen Fragen.
Geht das nur allein im stillen Kämmerlein?
Ich habe im Buch auch über das Fest geschrieben. Ein Fest bedeutet, dass wir eine gewisse Zeit untätig sind. Wir kleiden uns festlicher als im Alltag nötig. Wir essen nicht nur, um satt zu werden, sondern weil wir die Gesellschaft von anderen geniessen. Wir gehen, nicht um ein Ziel zu erreichen, sondern wir gehen einfach spazieren. Wir tanzen. Wir spielen. Das Spiel ist das Symbol der fröhlichen Untätigkeit. Wir sind dabei nicht gezwungen, etwas zu leisten.
Reicht es nicht, wenn wir einfach achtsamer sind?
Wenn dieses Bewusstsein innerlich bleibt, wenn der Kontakt mit sich selbst eine Privatsache bleibt, entspricht dies nicht meiner Idee. Für mich drückt sich die Zärtlichkeit in der Sorge um die Welt aus: die ökologische Sorge, die Sorge um den anderen, der Fragilität von allen. Es geht um Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart. Natürlich ist die Meditation wichtig. Doch sie sollte nicht eine Flucht aus der Welt bedeutet.
Uns Frauen wurde gesagt, wir sollen lauter und fordernder auftreten, um unser Ziele zu erreichen. Ist die Zärtlichkeit für uns kein Rückschritt?
Nein. Es ist eine neue Form von Macht, eine ehrlichere. Frauen haben eher den Mut, sie zuzulassen. Männer haben oft Panik davor, etwas zu verlieren, wenn sie ihre Verletzlichkeit preisgeben. Es braucht eine sanfte Kraft, um diese verkrusteten «coolen» Machtstrukturen aufzuweichen. Denn während diese Art der Macht auf Stillstand, Kontrolle, Abschottung und Sicherheit aus ist, leistet die Zärtlichkeit Widerstand gegen jedes System der Unterdrückung, der Angst und Härte. Zärtlichkeit besitzt eine grosse Kraft. Es ist auch unsere Verantwortung, diese nach aussen zu tragen.»
Buchtipp
Isabella Guanzini
Zärtlichkeit: Eine Philosophie der sanften Macht
220 Seiten, Verlag C. H. Beck
Zur Person
Isabella Guanzini kam 1973 als Tochter eines Arztes in Cremona (I) zur Welt. An der Universität Mailand studiert sie Philosophie und katholische Theologie und promovierte im Fach Humanistische Studien. Später erwarb sie an der Universität Wien einen weiteren Doktortitel in Fundamentaltheologie und lehrte dort für drei Jahre. 2018 übernahm sie den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.
Heute ist sie als Dozentin an der Katholischen Privatuniversität Linz tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Themen wie «Theologie in den Kontexten der Gegenwart», Religionsphilosophie sowie «Christentum und Psychoanalyse». Isabella Guanzini ist verheiratet und lebt in Wien.