Anna Jelen, ist es ein guter Start in den Tag, gleich nach dem Aufstehen sein Handy zu checken?
Anna Jelen: Die Frage ist, ob man sich gut dabei fühlt. Ich habe für mich ein anderes Morgenritual gefunden, das mich stärkt.
Wie sieht das aus?
Noch im Bett stelle ich mir die Frage: Sage ich heute ja oder nein zum Leben? Dann sitze ich da, trinke Tee, warte auf Gedanken und halte dieses Warten aus. Nach etwa einer halben Stunde schreibe ich die Gedanken auf.
Sind Sie dann bereit für den Tag?
Mental, ja. Körperlich brauche ich dann vielleicht noch etwas: duschen, um den See laufen oder Yoga.
Was ändert dieserStart in den Tag?
Mit diesem bewussten «Ja» zum Tag passiert etwas im Unterbewusstsein. Ich gehe anders, fokussierter durch den Tag.
Sie nennen sich Zeitexpertin. Was genau machen Sie?
Ich befasse mich mit dem Umgang mit der Zeit, halte Vorträge, coache Menschen, leite Workshops. Eigentlich war es mein Publikum, das mir den Namen «Zeitexpertin» gab.
Wie wird man Zeitexpertin?
Alles, was ich bisher gemacht habe, schaute ich aus der Perspektive einer limitierten Zeit an. Schon als Kind war mir bewusst, dass wir ein Enddatum haben. Das hat mich von klein auf fasziniert und geprägt.
Wer braucht ihre Hilfe?
Vor fünf Jahren dachte ich: Niemand! Da wurde ich noch belächelt. Heute merke ich, dass sich viele Menschen am Abend fragen, wo die Zeit hingegangen ist. Wir stecken in einer Zeitkrise.
Eine Zeitkrise?
Wir leben in einer Epoche, in der wir rein theoretisch noch nie so viel Freizeit hatten wie jetzt. Dennoch erleben wir emotional etwas anderes, fühlen uns zeitarm.
Was interessiert Sie am Thema Zeit am meisten?
Wie kann es dem Menschen passieren, dass er so fahrlässig mit seiner Zeit umgeht? Wieso lebt er oft so, als ob sie endlos wäre?
Wieso machen wir uns so wenig Gedanken über die Zeit?
Ich glaube, es hat etwas mit Ablenkung zu tun: Mails, Social Media, Handy. Es könnte aber auch eine Angst oder ein Tabu dahinterstecken. Sich über den eigenen Tod Gedanken zu machen, das kann morbid wirken.
«Erst die Arbeit, dann das Vergnügen», wurde uns eingebläut. Stimmt das so nicht?
Nein, man sollte es mischen. Ich versuche, mit der gleichen Wertehaltung durch den Job zu gehen wie durch die Freizeit, sonst würde ich eingehen. Es wäre wie in einer Wartehaltung. Man wartet auf den Feierabend, das Wochenende, die Ferien, die Pension.
Ab welchem Moment brauchen wir ein neues Bewusstsein für die Zeit?
Wenn man ständig denkt, keine Zeit zu haben. Wenn man das Gefühl hat, dass sie einem wegläuft und man ihr hinterherlaufen muss, dann muss das sehr unbefriedigend sein. Dabei haben wir diese Zeit. So lange unser Herz schlägt, haben wir sie!
Zeit besteht aus Momenten, sagen Sie. Was heisst das?
Während einer Nahtoderfahrung in jungen Jahren habe ich erlebt, dass Bilder von Momenten meines Lebens auftauchen. Solche Momente sind der Inhalt des Lebens und nicht die Karriere oder das Geld.
Wie sieht denn ein typischer Anna-Jelen-Moment aus?
Ich gehe täglich Eisbaden. Wenn ich das Eis aufbreche, ist das immer ein unglaublicher Moment. Die Zeit verliert an Bedeutung.
Sie sagen, dass wir unsere Momente selber kreieren können. Wie geht das?
Indem man sich bewusst wird, was einem wertvoll ist und diese Werte in den Alltag packt. Ich prüfe dies jeden Tag, indem ich mich vor dem Schlafen frage, was ich am Tag erlebt habe. Dann sehe ich Bilder. Heute wahrscheinlich von meiner Schwester und ihren Zwergdackeln, die zu Besuch sind.
Braucht es einen gewissen Egoismus dafür?
Es braucht etwas gesunden Egoismus. Eigentlich gehört nicht viel dazu, für sich solche Momente zu kreieren. Ich denke an die Menschen, die mir ihre Momente mitteilen. Eine Frau Namens Linda aus Bangkok hat mir zum Beispiel ein Foto geschickt, wie sie sich Zeit für einen Spaziergang nimmt.
Wie sehen typische Frauen-Momente aus?
Zu typischen Frauen-Momenten gehört oft das Musische. Viele haben auch diese Garten- und Tiermomente, die sie pflegen. Die Natur gibt auch mir viele zeitlose Momente.
Warum haben Sie eine Welttour durch 15 Städte gemacht?
Die Idee entstand bei einem Abendessen mit meinem Mann Samuel. Ich wollte schauen, wie Menschen in verschiedenen Städten der Welt mit der Zeit umgehen. Und ich wollte ihnen Mut machen, dass sie sich alle selber aus ihrem Zeit-Dilemma befreien können.
Was haben Sie dabei gelernt?
Das Thema Zeit berührt unwahrscheinlich. Wie sitzen in dieser Zeitkrise alle im selben Boot. Wir kämpfen alle mit dem gleichen Problem: Wir haben Angst um unsere Zeit!
Sie schreiben an einem Buch. Worum geht es?
Ich will, dass die Menschen gewisse Automatismen hinterfragen, zum Beispiel das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Ich zeige auf, wie man freier werden kann. Je freier ich bin, desto mehr Zeit habe ich.
Gehört dazu auch der automatische Blick auf den Mail-Eingang und das Smartphone?
Das lenkt uns alle zwölf Minuten ab. Wir müssen lernen, radikal zu kontrollieren, wie viel Zeit wir in der digitalen Welt verbringen wollen. Ich selbst checke meine Mails nur zweimal am Tag.
Was wäre anders, wenn wir weniger abgelenkt wären?
Ablenkung befriedigt uns nur eine kurze Spanne. Wir sehen dabei nur das Oberflächliche. Auf lange Zeit fehlt uns aber die Tiefe. Diese Tiefe verschafft uns aber Befriedigung.
Macht man sich mit zunehmendem Alter mehr Gedanken über die Zeit?
Bei vielen Menschen ist das tatsächlich so. Sie werden weiser, setzen deutlichere Prioritäten. Bei mir ist es anders. Ich war 20 Jahre alt, als ich zum ersten Mal einen Vortrag zum Thema Zeit hielt.
Welche Fragen beschäftigen Sie aktuell?
Diese Monotonie! Dieser Tunnel, wie der Mensch sein Leben abspult! Ich hatte einen Vortrag in einem Gefängnis und sah Parallelen zum Leben draussen. Menschen, die frustriert sind, weil sie wie ein Insasse immer dasselbe, das Einfältige erleben! Dabei muss doch das Neue, das Abenteuerliche immer Platz haben!
Angenommen, Sie hätten nur noch ein Jahr zu leben. Was würden Sie tun?
Mein Leben wäre gleich wie jetzt. Das hat mit der Frage zu tun, die ich mir jeden Tag stelle: Sage ich ja oder nein zum Leben?
Weitere Informationen:
www.anna-jelen.com
Den Wert jedes einzelnen Momentes schätzen
Das Thema Zeit prägte die 41-jährige Anna Jelen von klein an. Eine Anekdote erzählt davon: An einem Geburtstagsfest fragte sie als Sechsjährige in die heitere Runde, welches wohl ihr Enddatum sei. Die Anwesenden reagierten konsterniert, doch das Kind fand es interessant, dass ein jeder Mensch zwar sein Anfangs- nicht aber sein Enddatum kennt.
Mit siebzehn Jahren kam sie beinahe in einem Schneesturm um. Sie verlor während eines Hunde-Spaziergangs in den Bergen die Orientierung und verbrachte die Nacht durchfroren und entkräftet im Schnee. Diese Nahtoderfahrung zeigte ihr, dass kurz vor dem Ende vor dem inneren Auge Bilder von Erlebnissen auftauchen, von intensiven Momenten. Daraus entwickelte sie einen Lebensplan, der sich mit der Kreation von eigenen, wertvollen Momenten befasst.
Doch erst mal machte sie Matura in England, bildete sich in Deutschland zur Industriekauffrau aus und arbeitete für einen Schweizer Produzenten für Brustprothesen. Als Produktmanagerin besuchte sie mit einem Köfferchen Patientinnen mit Krebsdiagnose. Bei einem privaten Besuch sagte eine dem Tod geweihte Kundin zu ihr, dass sie ihr Leben aus heutiger Sicht anders gestaltet hätte, nun aber keine Zeit mehr dafür verbleibt.
Nach diesem Gespräch ging Anna Jelen zu ihrem Chef und schlug ihm vor, dass sie von nun an Seminare zur besseren Nutzung von Zeit anbieten wolle. Heute ist Anna Jelen selbstständiger Coach, Autorin und Referentin zum Thema Zeit und wohnt mit ihrem Mann Samuel Marguet in Arosa.