Frau Popp, kann man im Alter nochmals ganz neu anfangen?
Ursula Popp: Ja, man kann im Alter neu beginnen, da kenne ich viele Beispiele. Ich selbst habe vor drei Jahren zwei Drittel meiner Besitztümer entsorgt und bin nach 20 Jahren in Seattle in die Schweiz zurück gekommen. Hier mache ich ganz etwas anderes als in den USA.
Sie sind jetzt 68 Jahre alt. Warum wollen Sie nicht einfach «pensioniert» sein?
Ich brauche die Worte «pensioniert» und «Pension» nicht gern, sie klingen zu sehr nach Entspannung. Das ist mir zu wenig. Nur stricken und backen und zweimal im Jahr ein Reisli machen, ist als alleiniger Fokus weder sinngebend noch befriedigend.
Was stört Sie an den Worten?
Der Begriff «Pension» beinhaltet, dass man Geld bekommt, aber nicht mehr gefragt ist. Vielmehr soll man sich aufs Altenteil zurückziehen. Doch meine Generation hat mit 65 Jahren in der Regel noch ein langes Leben vor sich. Die Aussicht auf 30 Jahre auf dem Altenteil finde ich erschreckend. Für mich ist der Pensionierten-Status zudem ein Schweizer Phänomen. In den USA arbeiten die Leute solange sie wollen und können, oft mit kleinerem Pensum oder vereinfachten Aufgaben.
Weshalb wird dort länger gearbeitet?
Teils arbeiten die Leute aus wirtschaftlichen Gründen weiter. Viele wollen auch nicht aufhören. Bei Selbstständigerwerbenden erlebt man das auch in der Schweiz. In meiner Familie war es sogar üblich. Mein Grossvater war bis 70 Präsident einer Krankenkasse. Meine Mutter amtete bis 70 als Laienrichterin. In diesem Umfeld wuchs ich auf.
Geniessen Sie ihre Pension denn gar nicht?
Ich geniesse die Wahlmöglichkeiten. Ich habe nur die AHV, aber keine Pensionskasse. Die AHV zahlt meine Grundkosten, hält mir den Rücken frei. Ich kann zum Beispiel an einem schönen Tag spontan in die Berge.
Aber Sie arbeiten noch ...
Ich arbeite sogar viel. Aber ich habe die Freiheit, Ja oder Nein zu sagen, ohne überlegen zu müssen, wie die Butter aufs Brot kommt. Mir geht es um die Qualität des Lebens. Das steht auch im Zentrum meines Jahreskurses «Das Beste kommt noch».
Was ist für Sie denn das Beste am Alter?
Im Erwerbsleben sind wir oft von der Quantität getrieben: Bei der Arbeit, beim Konsum, beim Geld verdienen. Die Qualität steht nicht im Vordergrund. Doch wenn man aus der Erwerbstätigkeit aussteigt, kann sich ein Raum öffnen, bei dem es um die Qualität des Seins geht.
Was heisst das konkret?
Dass ich zum Beispiel Zeit habe, den Baum vor dem Fenster zu bewundern. Dass ich mich in Ruhe mit
Leuten unterhalten kann, ohne fixes Ziel, wohin das Gespräch führen soll. Ich habe Zeit, mich einzulassen, auf Menschen, auf die Natur, auf mich selbst. Das ist für mich «das Beste», die qualitative Ausrichtung. Es geht im Alter um mehr als Besitzstandswahrung. Das allein ist doch keine Vision für das Leben im Alter.
Was für Menschen kommen in ihren Jahreskurs?
Die einen sind frisch pensioniert, andere schon länger. Einige haben Angst vor dem Alleinsein. Andere definierten sich bisher stark über die Arbeit. Fällt sie weg, fehlen Identität, Kollegen, Weiterbildungen und Tagesstruktur. Das alles muss man sich frisch erarbeiten. Im Kurs entstehen neue Gemeinschaften und Allianzen, etwa für Projekte.
Was ist dabei die zentrale Fragestellung?
Die meisten suchen einen Weg, wie sie die Zeit zwischen dem Jetzt und dem Tod bewusst gestalten kann. Ich meine wirklich bewusst etwas tun, es nicht einfach geschehen lassen. Viele Pensionierte suchen Möglichkeiten, sich sinnvoll zu engagieren. Das Geldverdienen steht ja nicht mehr im Vordergrund. Das ist auch bei mir so. Mit meinen Kursen verdiene ich etwas, aber ich mache hier im Lassalle-Haus auch vieles unbezahlt.
Ist das Wissen von Pensionierten überhaupt gefragt?
Es gibt ganz unterschiedliche Lebenswege. Ich weiss von einer Politikerin, die mit 91 von der Bevölkerung ins Stadtparlament Arbon gewählt wurde. Es gibt aber auch eine deutliche Altersdiskriminierung, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen.
Was meinen Sie damit?
In der Schweiz ist es üblich, dass man mit den Jahren immer mehr Lohn bekommt. Dadurch sind ältere Angestellte für die Unternehmen teurer als junge. In den USA sieht das anders aus. Zum einen gibt es ein Gesetz gegen Altersdiskriminierung. Zudem hat dort jeder Job einen fixen Lohn, unabhängig davon, ob die Arbeit von einer älteren oder einer jüngeren Person gemacht wird. Daher wird auch die Arbeit von Älteren geschätzt.
Wie erleben Sie den Umgang mit Älteren bei uns?
Hat man Runzeln im Gesicht, trauen einem die Menschen weniger zu. Auch die Medien stellen uns oft als Schmarotzer dar: Die armen Erwerbstätigen müssen für uns langlebige Senioren zahlen. Die ganze Diskussion um das Alter ist in der Schweiz nicht wertschätzend, sondern entwürdigend.
Wie sieht es in anderen Kulturen aus?
Im Hinduismus oder bei den nordamerikanischen Indianern haben Ältere eine spezielle Funktion: Sie richten ihre Sicht auf das Wohl der Welt. Es geht nicht nur um die eigenen Befindlichkeiten und um Besitzstandswahrung. Es geht um die Frage: Was für eine Auswirkung hat eine Handlung heute auf die nächsten sieben Generationen? Das sind rund 200 Jahre in der Zukunft.
Was wünschen Sie sich für die Schweiz?
Es könnte eine neue Bewegung entstehen, in der die Älteren die Jungen mit ihrem Wissen, mit ihrer Energie mit ihrer Kraft unterstützen. Eine gegenseitige, generationenübergreifende Bewegung.
Welche Ansätze in diese Richtung gibt es schon?
Zum Beispiel generationenübergreifende Projekte wie die Genossenschaft Zeitgut. Oder die Grossmütter-
Revolution. Oder die Klimaseniorinnen. Da stehen alte Frauen hin und sagen: So nicht!
Stört es Sie, als «alte Frau» bezeichnet zu werden?
Nein, das bin ich doch auch. Ich weiss, das ist für viele in unserer Jugend-verliebten Gesellschaft schwierig. Wenn mich die Leute anblicken, sehen sie eine alte Frau. Doch es liegt an mir, zu definieren, was damit gemeint ist. Wir brauchen neue Rollenmodelle für uns Alte. Es ist unsere Aufgabe, ein anderes Bild zu leben als das konventionelle.
Was hilft einem zu akzeptieren, dass man alt ist?
Es braucht Wertschätzung dafür, dass man alt werden durfte. Ich bin jetzt zum Beispiel über zehn Jahre älter, als es mein Vater geworden ist. Es braucht auch Dankbarkeit für den Weg, den man gegangen ist. Für das, was einem gelungen ist.
Was macht man mit schwierigen Erinnerungen?
Zuerst muss Dankbarkeit für das eigene Leben entstehen. Dann kann ich die schwierigen Sachen ansehen und nochmals trauern. Zum Beispiel, dass mich mein Mann verlassen hat. Das ist eine verarbeitende Trauer, weil ich sie auf der Grundlage der Dankbarkeit mache. Ich kann dann etwa dankbar sein für die Kinder aus dieser Beziehung.
Braucht es ein Konzept fürs Pensionsalter?
Nach dem Ende der Erwerbstätigkeit braucht es oft ein Jahr, in dem man ganz dem eigenen Rhythmus folgt: Ausschlafen, Zeitung lesen, Freundinnen besuchen. Dann kommt meist die Frage: Und jetzt? Wie weiter? Bei der Suche nach der Antwort helfen Freunde und der Rückblick aufs Leben: Was war mir wichtig? Was ist mir heilig? Was bricht mir das Herz? Die Fragen helfen beim Herausfinden, wohin es gehen kann.
Wie findet man heraus, was einem das Herz bricht?
Wenn man zum Beispiel bei einem Film oder beim Zeitung lesen darauf achtet, was einem die Tränen in die Augen treibt, was einem aufwühlt. Bei mir waren es Fotos von völlig abgemagerten Polarbären. Das hat mir die Luft abgeschnitten. Nehme ich solche Reaktionen wahr, kann mir das einen Hinweis liefern, wofür ich mich einsetzen will.
Wie kann so ein Engagement aussehen?
Das ist ganz unterschiedlich. Es geht nicht um wilden Aktivismus, sondern um einen inneren Prozess rund um die Frage: Wie sehe ich mich selber und wie sehe ich die Welt? Es kann sein, dass ich zum Beispiel einfach mit den Enkeln anders umgehe, weil ich die Polarbären im Kopf habe. Dass ich der nächsten Generation für ein Thema eine besondere Sensibilität weitergebe.
Weitere Informationen:
www.ursulapopp.ch
Ursula Popp
Ursula Popp ist in St. Gallen aufgewachsen und lebte 20 Jahre in den USA. Sie ist Berufs- und Laufbahnberaterin, hat chinesische Medizin studiert und führte in Seattle eine Schule für Körperarbeit. Heute lebt und arbeitet sie im Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn ZG. Dort gibt sie unter anderem Fastenkurse und leitet Zen-Meditationen an. Zudem hat sie den Jahreskurs «Das Beste kommt noch» entwickelt. Er richtet sich an Pensionierte, die eine neue Ausrichtung suchen.
Zwei von fünf möchten weiterarbeiten
Rund 50 Prozent aller Schweizer Erwerbstätigen zwischen 50 und 64 Jahren möchten gerne über das Pensionsalter hinaus in Teilzeit weiterarbeiten. Das ergab eine aktuelle Studie des Beratungsunternehmens Deloitte. Allerdings rechnen nur sehr wenige damit, dies auch tatsächlich tun zu können. Denn ältere Arbeitnehmer sind oft wenig gefragt.
Auf der anderen Seite werden dem Schweizer Arbeitsmarkt laut der Grossbank UBS bis im Jahr 2030 voraussichtlich bis zu einer halben Million Arbeitskräfte fehlen. Eine Möglichkeit, die Lücke zu füllen, wäre ein flexibles Rentenalter. Das haben einige Staaten bereits eingeführt. So können zum Beispiel die Schweden selber entscheiden, ob sie schon mit 61 oder erst mit 67 Jahren in Pension gehen. Wer früher aufhört, bekommt weniger Rente.
Klimaseniorinnen
Die Klimaseniorinnen werfen dem Staat vor, er unternehme zu wenig gegen den Klimawandel. Die Klimagesetzgebung verletzte das Grundrecht auf Leben in Gesundheit, so der Verein. Denn laut verschiedenen Studien seien ältere Frauen besonders stark durch die Klimaerwärmung gefährdet. Daher zieht die Organisation nun mit ihrer Klage vors Bundesgericht.
Grossmütter-Revolution
Die «Grossmütter-Revolution» versteht sich als soziale Bewegung, die gesellschaftsrelevante Fragen rund um Alter, Frausein und Generationen aufnimmt. Das Ziel ist, veraltete Bilder aufzubrechen, gesellschaftliche und politische Vorstellungen und Entscheide zu hinterfragen und zum Nachdenken anzuregen.
Zeitgutschriften
Ob einkaufen, Balkon winterfest machen oder einfach jemandem Gesellschaft leisten: Freiwillige jeden Alters können Nachbarschaftshilfe leisten und bekommen dafür Zeitgutschriften, falls sie selbst einmal Unterstützung brauchen. Bereits gibt es in der Schweiz über ein Dutzend gemeinnützige Organisationen, die nach diesem Modell arbeiten.