Manch ein älteres Semester wird sich heute fragen, wie das sein kann: Bis weit in die 1970er-Jahre bezahlte der Bund Fällprämien für Hochstammbäume. Heute unterstützt er deren Wiederanpflanzung mit Bundesgeld.

Generalstabsmässige Organisation

In einem kürzlich erschienen Buch liefert Franco Ruault fundierte Erklärungen für dieses Hüst und Hott. Der Historiker und Journalist ist seit 2016 Kommunikationsverantwortlicher bei der Mosterei Möhl im thurgauischen Arbon. Sein Buch heisst schlicht «Baummord». Auf 160 akribisch recherchierten Seiten beschreibt Ruault detailliert die vom Staat generalstabsmässige organisierten Obstbaum-Fällaktionen zwischen 1950 und 1970 anhand des Kantons Thurgau.

Das Buch ist eindrücklich bebildert. Es finden sich Impressionen vom Zerstörungsfeldzug ebenso wie historische Luftaufnahmen. Diese zeigen, dass weite Teile des Kantons bis in die 1950er-Jahre praktisch bewaldet waren mit Hochstammbäumen. Dazu kommen ältere Aufnahmen von ganzen Bauernfamilien vor Bäumen, teilweise in der Grösse von Mehrfamilienhäusern.

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Staat förderte bis 1920 die Hochstamm-Kulturen

Wenn man die Bilder aus heutiger Sicht betrachtet, gerät man automatisch ins Grübeln. Wie konnte man bloss einen solchen Biodiversitätsreichtum mutwillig zerstören? Wenn heute Heerscharen von Agronomen den Agroforst predigen, dann muss ihnen beim Betrachten der 70-jährigen Bilder das Augenwasser kommen. Hier stand er, der Hochstamm-Agroforst, auf hunderten von Hektaren. Notabene war die Ausweitung des Feldobstbaus bis in die 1920er-Jahre vom selben Staat gefördert worden.[IMG 3]

Alkohol und hohe Kosten

[IMG 4]Ruault liefert plausible Erklärungen für den Gesinnungswandel. Die Zeiten waren andere. 1930 hatte die Bevölkerung das neue Alkoholgesetz angenommen. Der gesamte Obstbau wurde mit Inkrafttreten des Gesetzes 1932 der Eidg. Alkoholverwaltung unterstellt. Die Verstaatlichung des Sektors mit Übernahmegarantie der gebrannten Wasser sorgte für hohe Verluste auf Bundesebene. Gleichzeitig waren die Behörden Mitte des vergangenen Jahrhunderts besorgt über den übermässigen Alkoholkonsum und sahen in den Hochstammbäumen die Hauptverantwortlichen.

Unter dem Schlagwort «Umstellung im Obstbau» wurde dann ab 1950 die «Rationalisierung und Modernisierung» der Obstbaumbestände an die Hand genommen, wie Ruault schreibt. 11 Mio Hochstammbäume fielen dieser Aktion schweizweit zum Opfer, im Kanton Thurgau allein wurde der Bestand zwischen 1950 und 1981 von 1,5 Mio auf 400 000 Hochstämmer reduziert.

Bauern trennten sich nicht widerstandslos von den Bäumen

Die Bauern trennten sich trotz Fällprämien nicht alle widerstandslos von ihren Bäumen. Diese wurden mit psychologischem Druck und Fällprämien bearbeitet. Gleichzeitig profitierten die Organisatoren der Abholzung von der damals herrschenden Rationalisierungseuphorie in der Landwirtschaft. Ein interessantes Lehrstück der Schweizer Agrargeschichte.