Was haben der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, die berühmte Schauspielerin Whoopi Goldberg, der geniale Wissenschaftler Albert Einstein und die Kinderbuchheldin Pippi Langstrumpf gemeinsam? Sie alle haben oder hatten ADHS oder erfüllen, so Pippi, viele Merkmale davon. In der Schweiz sind schätzungsweise rund fünf Prozent aller Kinder betroffen. ADHS – die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hypoaktivitätsstörung – ist also keine «Modediagnose», wie es manchmal suggeriert wird, sondern eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Kindesalter. «Wir kennen ADHS schon aus Zeiten des Buches ‹Struwwelpeter, 1844 geschrieben vom Psychiater Heinrich Hoffmann», sagt Anita Jung Strub, Leiterin der Fachstelle Nordwestschweiz der Schweizer ADHS-Organisation Elpos.

Botenstoffe nicht in Balance

Das Gehirn von Betroffenen verarbeitet Informationen anders als das von neurotypischen Menschen, wobei ein Ungleichgewicht von Botenstoffen wie Dopamin und Noradrenalin eine zentrale Rolle spielt. Oft geht ADHS mit einer Entwicklungsverzögerung einher, was den Alltag der Betroffenen und ihres Umfeldes prägt.

Die drei Kernsymptome sind Unaufmerksamkeit, Hyper- oder Hypoaktivität sowie Impulsivität. Während hyperaktive Kinder kaum stillsitzen können, sind hypoaktive Kinder eher verträumt und verlangsamt im Handeln. Impulsivität zeigt sich darin, dass gehandelt oder gesprochen wird, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

Von Reizen überflutet

Anita Jung Strub kennt aus ihrer Arbeit und als Mutter eines Sohnes mit ADHS zahlreiche frühe Anzeichen: Kinder mit ADHS sind schnell ablenkbar, empfindlich auf Reize wie Hintergrundgeräusche und haben oft Schwierigkeiten mit der Emotions- und Selbstregulation. In der Schule können sie ihr Potenzial oft nicht ausschöpfen. Obwohl viele ADHS-Betroffene sehr intelligent sind, machen viele Flüchtigkeitsfehler, stören den Unterricht oder haben Mühe, sich einzugliedern. Auch motorische Auffälligkeiten, etwa beim Schreiben oder Schneiden mit der Schere, Probleme mit Selbstorganisation, fehlendes Zeitgefühl oder eine hohe Sensibilität sind typisch.[IMG 2]

Schon im Säuglings- und Kleinkindalter können Anzeichen sichtbar werden – etwa häufiges Schreien, Schlafprobleme, motorische Unruhe und Unfälle durch Unberechenbarkeit. Im Grundschulalter können eine geringe Frustrationstoleranz und heftige Wutanfälle dazukommen. «Sie sprechen gerne und viel, kommen schwer mit Regeln klar und können zu Aussenseitern werden», ergänzt Jung Strub.

Mädchen sind anders

Lange galt die Störung als «typisch männlich». Heute weiss man, dass sich ADHS bei Mädchen oft anders zeigt als bei Jungen. Während Jungen häufiger durch motorische Unruhe und impulsives Verhalten auffallen, wirken Mädchen oft verträumt, hyperangepasst oder sensibel. Sie verzetteln sich leicht, sind empfindsam und zeigen ihre Schwierigkeiten seltener offen – was dazu führt, dass ADHS bei ihnen oft später erkannt wird. ADHS-Betroffene können an Begleiterkrankungen leiden, wie Lese-/Rechtschreibstörung, Rechenstörung, Tic-Syndrom, Autismusspektrum, Zwänge und Ängste, Schlafstörungen oder Depressionen. Bei Mädchen sind diese sogenannten Komorbiditäten meist stärker ausgeprägt als die eigentliche ADHS-Symptomatik.

Mitgebrachte Stärken

Kinder mit einer ADHS sind oft:
- kreativ
- hilfsbereit
- zeigen eine hohe Einsatzbereitschaft
- feinfühlig und sensibel
- ehrlich
- sehr begeisterungsfähig
- spontan
- charmant
- haben einen grossen Ideenreichtum und viel Fantasie
- sind im Notfall voll da und können über sich herauswachsen
- sehr tierlieb.

Eltern merken oft früh, dass ihr Kind «anders» ist. Der erste Schritt sei, den Kinderarzt oder die Kinderärztin aufzusuchen, so Jung Strub. Auch die Elpos-Hotline biete niederschwellige Beratung. Wichtig sei, dass die Abklärung von qualifizierten Fachpersonen mit standardisierten Tests erfolgt. Dazu gehören Gespräche mit Eltern, Lehrpersonen und anderen Bezugspersonen, Verhaltensbeobachtungen, körperliche Untersuchungen, neurologische Tests und eine abschliessende Auswertung.

Bleibt ein Leben lang

Ein häufiges Missverständnis ist, dass ADHS nur Schulkinder betreffe. «Die Symptome können bereits im Kleinstkindalter auftreten und bleiben bis ins hohe Alter bestehen», erklärt Anita Jung Strub. Auch der Vorwurf, Kinder mit ADHS seien faul oder schlecht erzogen, sei falsch: «Alle Kinder wollen Erfolg haben und gelobt werden. Wenn sie ständig korrigiert und geschimpft werden, leidet ihr Selbstbewusstsein massiv.»

Nie vergessen gehen darf deshalb, dass ADHS-Kinder viele Stärken wie eine hohe Kreativität und Ehrlichkeit und eine grosse Tierliebe mitbringen (siehe Kasten). Im ADHS-Strudel kommen alle Beteiligten oft nicht mehr aus den negativen Gedanken heraus. Streit und Unzufriedenheit bestimmen den Alltag einer ADHS-Familie. «ADHS-Kinder haben ein sehr tiefes Selbstbewusstsein. Deshalb ist es so wichtig, die vielen positiven Eigenschaften wahrzunehmen und auch zu benennen!», plädiert Anita Jung Strub. ADHS-Kinder bräuchten mehr Lob als neurotypische Kinder. Aber wichtig: Nur ehrlich gemeintes.

Bei der Behandlung einer ADHS empfiehlt sich eine multimodale Therapie, bestehend aus Aufklärung und Schulung der Eltern, Beratung der Lehrpersonen, Verhaltenstherapie, heilpädagogischer Früherziehung, Ergotherapie, Lerntherapie, Spieltherapie oder Neurofeedback. Sportarten wie Klettern oder asiatische Kampfkünste können helfen, überschüssige Energie abzubauen. Auch Medikamente können Teil der Therapie sein – hier sollten Eltern insbesondere den Leidensdruck des Kindes, der Familie und die Wirksamkeit anderer Ansätze abwägen.

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Ganze Familie leidet

ADHS betrifft die ganze Familie. Eltern fühlen sich oft schuldig, erleben hohe Belastung und Partnerschaftskonflikte – oft bis hin zur Trennung. Hilfe anzunehmen, etwa durch Gesprächsgruppen oder Elterncoaching, kann entlasten und helfen, die Diagnose zu akzeptieren.

Von Schulen, Behörden und Gesellschaft wünscht sich die Fachfrau mehr Geduld und Toleranz. Lehrpersonen sollten sich gut informieren, Kinder so annehmen, wie sie sind, und spezielle Lernstrategien anwenden. «ADHS muss als das akzeptiert werden, was es ist: eine weitverbreitete und ernstzunehmende Entwicklungsstörung – und keine Folge schlechter Erziehung», hält Anita Jung Strub fest. «Ausserdem können die hohen Erwartungen der heutigen Gesellschaft an Kinder eine Überdiagnose fördern.»

Website von Elpos

Bauernhof als Kraftort
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Ein Bauernhof kann für Kinder mit ADHS ein besonders günstiges Umfeld bieten, sagt Anita Jung Strub. «Bewegung und angemessene Freiheiten stärken das Selbstbewusstsein eines ADHS-Kinds enorm»:

Feste Strukturen und Routinen: Auf einem Hof gibt es oft einen klaren Tagesablauf mit wiederkehrenden Aufgaben. Das hilft Kindern mit ADHS, sich zu orientieren, Sicherheit zu gewinnen und den Tag selbst zu strukturieren.

Körperliche Arbeit: Stall ausmisten, Heu laden, Tiere füttern – die körperliche Aktivität hilft, überschüssige Energie abzubauen und verbessert die Konzentrationsfähigkeit.

Naturerlebnisse: Der enge Kontakt zur Natur, die Jahreszeiten, das Wetter, die Pflanzen und Tiere bieten ständig neue, sinnliche Erfahrungen, die beruhigend und ausgleichend wirken können.

Arbeit mit Tieren: Ob Kuh, Pferd oder Hund – Tiere reagieren unmittelbar auf das Verhalten des Menschen. Das fördert Einfühlungsvermögen, Geduld und Verantwortungsgefühl. Tiergestützte Interventionen haben nachweislich eine beruhigende Wirkung und fördern soziale Kompetenzen.

Sichtbare Erfolge: Wenn ein Kind beim Melken hilft, Gemüse erntet oder ein Kalb versorgt, kann es das Ergebnis seiner Arbeit direkt sehen. Das gibt Erfolgserlebnisse, stärkt das Selbstwertgefühl und motiviert.

Soziale Einbindung: Auf einem Hof ist Teamarbeit gefragt. Kinder erleben, dass ihr Beitrag zählt, und fühlen sich gebraucht – ein wichtiger Faktor für ihr Zugehörigkeitsgefühl.