Eine Fahrt durch das Centovalli. «Wer hier baut, braucht einen Gott», denke ich, als eine mächtige Kirche vorbeizieht. Um den Turm drängen sich kleine Häuschen, wie Inseln in einer Landschaft, die ein ungeheurer Wirrwarr ist aus Felsbrocken, Runsen, Wildbächen und Wald. «Wie sind all Ding so wandelbar», dichtete der Meistersinger, und das gilt besonders hier: Alles hier ist vorläufig, nur da, bis die nächste Katastrophe kommt.

In geologisch jungen Hochgebirgen wie den Alpen ist der Ausnahmezustand Normalität. Der einzige Faktor, der in diesen «Störungsregimen» für etwas Stabilität sorgt, ist der Mensch. Mit Beweidung, Holzschlag und Terrassenbau nahm er den Ökosystemen ihre natürliche Dynamik. Die Landschaft kam zur Ruhe. Das Gebirge wurde bewohnbar.

Eine Welt, surreal wie ein Nebelspiel

Wie war das möglich? Zunächst durch detailliertes praktisches Wissen. Nicht genug, dass der traditionelle Bergler jeden Stein seiner Heimat kannte – er kannte zu jedem Stein eine Geschichte. Dann war da die Einsicht in die Grenzen des eigenen Wissens. Mochte er auch nicht wissen, warum das Vieh, die Häuser, der Käse in seinem Tal genauso waren und nicht anders, so rechnete er doch damit, dass dies nicht den Zufällen einer vergessenen Mode geschuldet war, sondern der Erfahrung und Einsicht der Altvorderen. Schliesslich pflegte er eine Mentalität, in der das Glück des Einzelnen nie zuoberst stand und der Horizont des Handelns stets über den eigenen Tod hinauswies.

In seinem Werk «Goldener Ring über Uri» beschrieb Eduard Renner ein solches Weltbild. Die Natur erscheint hier als unwägbar, surreal wie ein Nebelspiel um die Berge, das Gipfel verschwinden und wieder heraustreten lässt und in dem die Landschaft alle paar Augenblicke eine andere ist.

Fortschritt? Es ging ganz gut ohne

Das Einzige, was dieser Welt etwas Bestand gibt, ist der Mensch, der nach Recht und Brauch handelt – in der Hoffnung auf ein Seelenheil jenseits der Unfassbarkeit von Zeit und Raum. Ein solcher Mensch vermag, so Renner bildlich, einen «Ring» um sich und die Seinen zu legen, in dem die alles verschlingende Unbeständigkeit der Natur zeitweilig gebannt ist – und ein Überleben, ja sogar ein kleines Glück auf Erden, möglich wird. Doch «viel erleiden mag es nicht»: Eine kleine Nachlässigkeit hier, ein Funken Mutwillen dort – und der Ring bricht, das Chaos dringt ein, und plötzlich bedeckt ein Gletscher die feisten Weiden der Blüemlisalp.

Für städtisch-bürgerliche Begriffe wie «Fortschritt» und «Entwicklung» gab es in dieser alten Bauernwelt keine Verwendung. Sie funktionierte ganz gut ohne, wie Anselm Zurfluh 1994 in seiner Analyse «Uri – Modell einer traditionellen Welt» feststellen konnte. Vieles, was eifrigen Reformern in der Vergangenheit als verstockt und abergläubisch missfiel, ergibt heute aus agrarökologischen Gesichtspunkten Sinn: etwa die bewusste Unterproduktion, mit der Risiken minimiert und Handlungsspielraum für den Krisenfall geschaffen wurde.

Oder die harten Erbfolge- und Heiratsregeln, die vielerorts galten: Im Südtiroler Nonstal etwa hielten diese die Reproduktion der Bevölkerung verlässlich in den Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit, wie die amerikanischen Ethnologen John Cole und Eric Wolf in den 1970er-Jahren bei ihrer Feldarbeit nicht ohne Verwunderung feststellten. Voraussetzung dafür war eine rigide Sexualmoral – Entsagung als Überlebensstrategie.

Nach dem fossilen Temporausch – die alte Angst

Die mit fossiler Energie jede Grenze überwindende Moderne hatte für solcherlei «Rückwärtsgewandtheit» nur Spott und Verachtung übrig. Nun spricht auch – und gerade – sie von «planetaren Grenzen» und «Enkeltauglichkeit». Plötzlich ist auch in den Städten nicht mehr sicher, wie viel «es noch leiden mag», bevor «es gehen lässt». Der Planet verengt sich, wird gleichsam Bergtal.

Vielleicht sind es deshalb so oft Bilder von schmelzenden Gletschern und alpinen Sturzfluten, die die Berichterstattung zur «Klimakrise» untermalen. Es ist das alte menschliche Ungemach im Angesicht der Schicksalshaftigkeit, deren Bild schon immer das Ungestüm der Wildnis war: «Ich erhebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?»

Wollten wir dem Beispiel von Renners alten Urnern folgen – wir müssten die Antwort auf diese Frage nicht in neuen Erkenntnissen suchen, sondern bei jenen, die sie schon lange vor uns gestellt haben.