Weisst du, wie spät es ist?», knurrt mein Mann ziemlich vorwurfsvoll ins Telefon. «Nein, keine Ahnung», erwiderte ich. Denn ich rief ihn nach der Generalversammlung des Bauernverbands beider Basel mit der Bitte an, er solle mich doch am Ebenrain abholen. «So spät kann es nicht sein, denn die meisten Teilnehmer sitzen noch gemütlich an den Tischen und plaudern und lachen.»

Das Beisammensitzen nach langer Zeit tut gut

Es sei fünf Minuten vor Mitternacht, werde ich aufgeklärt. Es hat wohl niemand auf die Uhr geschaut und gedacht, das sei wieder ein zähflüssiger Abend, der kein Ende nehme. Im Gegenteil: Offensichtlich profitierten alle davon, endlich wieder richtig an einer Versammlung teilnehmen zu können. Im Laufe des Abends knipste ich Schnappschüsse von Landwirten an den Tischen. Am nächsten Tag schickte ich diese ihren Frauen. Die Reaktionen auf diesen Bildern sprechen Bände.

Die Reaktionen sind gemischt

Eine Bäuerin schrieb: «Es kam mir komisch vor, als er sagte, er müsse an eine GV. Ich glaubte nämlich, die seien weiterhin nicht erlaubt.» Eine andere Gattin meinte, es gefalle ihr gar nicht, dass jetzt «das» wieder anfange. Sie hätte ihren gesellschaftlich und politisch engagierten Mann nun fast zwei Jahre abends für sich gehabt. Auch die Kinder hätten es geschätzt, dass der Vater auf einmal viel mehr Zeit für sie hatte. Für ihre Familie sei es eine beträchtliche Umstellung, sich wieder an den vor Corona geltenden Rhythmus zu gewöhnen. Eine junge Frau mailte: «Zum Glück hast du mir dieses Alibibild geschickt. So bin ich sicher, dass er wirklich an der Versammlung war …» Ich überlegte, ob sie dies nur so aus Spass geschrieben hat? Oder ob mehr hinter ihrer Aussage steckt?

Eine Videokonferenz in bäuerlichen Kreisen war früher undenkbar

Schliesslich reagierte auch ein Teilnehmer, dessen Frau ihm mein Mail weitergeleitet hatte. Sie habe ihm gesagt, es sei komisch, dass er nun abends wieder weggehe und spät nach Hause komme. Aber sie verstehe, es sei wichtig, dass man sich wieder treffen und austauschen könne und es lustig habe. «Früher war das selbstverständlich», hängte der Mann an, «jetzt lernen wir bewusst, unsere «neuen» Freiheiten auszukosten.» So kommen uns in nächster Zeit wohl viele Gedanken und Überlegungen, die uns ohne die Pandemie nie beschäftigt hätten. Myriam Gysin, die Präsidentin der Bäuerinnen- und Landfrauenvereinigung beider Basel, erwähnte an diesem Abend, als der Verbandskassier über Videokonferenz vom Oberbaselbieter Berggebiet an den Ebenrain zugeschaltet wurde: «Hätten wir uns vor zwei Jahren dieses Vorgehen vorstellen können? Wahrscheinlich wären die meisten dagegen gewesen, denn in unseren Kreisen wollen wir unverfälscht herüberkommen.»

Im Schlechten kann sich auch etwas Gutes verstecken

Ein Grund mehr, dass Corona nicht nur schlechte Seiten hervorbrachte. Das erinnert mich an eine Aussage von Albert Schweitzer, Arzt und Philosoph (1875–1965): «Viele Menschen wissen, dass sie unglücklich sind. Aber noch mehr Menschen wissen nicht, dass sie glücklich sind.» Wir lernen verstehen, dass Schicksalsschläge und Heimsuchungen auch Gutes an sich haben können. Meistens nicht auf Anhieb, sondern erst mit der Zeit ersichtlich, wenn wir uns an neue Situationen gewöhnen. Oder wenn wir unseren Blick über den Gartenhag werfen und die Grenzen weiterstecken. Und beobachten, was auf der anderen Seite geht.