Die Lebensmittelsensorik beschäftigt sich mit der Beurteilung von Lebensmitteln durch die menschlichen Sinne. Doch wie geht man das wissenschaftlich an? Annette Bongartz, Leiterin der Fachstelle Sensorik an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) erklärt, worauf es ankommt.
Frau Bongartz, wie gehören Lebensmittelsensorik und Wissenschaft zusammen?
Annette Bongartz: Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle Sensorikerinnen und Sensoriker. Wir verlassen uns auf unsere individuellen Sinnesempfindungen wie das Tasten, Schmecken, Riechen oder Sehen. Trotzdem sind wir oft nicht in der Lage, genau zu sagen, was uns schmeckt oder warum es uns schmeckt. Das versuchen wir an der ZHAW wissenschaftlich anzugehen und zu klären.
Also geht es bei der Lebensmittelsensorik um die Frage, ob einem etwas schmeckt?
Nein, das ist es nicht, beziehungsweise nicht nur. Ob einem etwas schmeckt, liegt in der subjektiven Entscheidung jedes Einzelnen. Mir schmeckt vielleicht ein bestimmter Joghurt, Ihnen nicht. In der analytischen Lebensmittelsensorik geht es darüber hinaus darum, objektiv zu beschreiben, wie ein Produkt ausgeprägt ist oder sein soll. Ob es gut oder schlecht ist, hängt von den betrieblichen Vorgaben oder den individuellen Erwartungen der Konsumierenden ab.
Wie geht man das Thema an?
Hier an der ZHAW erhalten wir regelmässig Aufträge aus der Lebensmittelbranche. Hersteller oder auch Händler möchten aus objektiver Sicht wissen, welche Attribute oder Charakteristiken ein Produkt ausmachen. Dabei arbeiten wir – je nach Methodik – zum Beispiel in Gruppen von acht bis zehn Personen, deren Sensitivität speziell für ein bestimmtes Produkt geschult ist.
Wie schult man Sensitivität?
Es gibt verschiedene Wege. Bei uns bieten wir etwa eine Grundausbildung an, bei der man seine Sinne trainiert und schärft. In sogenannten Panels oder Prüfergruppen einigt man sich auf ein Vokabular, damit alle die gleiche Sprache sprechen. Bei Schoggi geht es zum Beispiel um Begriffe wie Süsse, Bitterkeit oder Schmelzverhalten. Die Skala reicht pro Attribut von null bis zehn, von gar nicht wahrnehmbar bis sehr intensiv. Auch mit viel Training zeigen Prüfpersonen gewisse individuelle Schwankungen, die man akzeptieren muss. Sie können aber durch die Anzahl Prüfpersonen ausgeglichen und so objektiviert werden. Wenn ich etwa ein Olivenöl als bitter wahrnehme, Sie aber nicht, dann versuchen wir unsere Wahrnehmungen auf einer Intensitätsskala miteinander abzustimmen. Das ist ein wenig wie eine Kalibrierung.
Testet man nur Lebensmittel, die neu auf den Markt kommen?
Das ist unterschiedlich. Manchmal wird auch ein Produkt getestet, wenn es Änderungen im Rezept oder bei den Grundzutaten gibt. Oder die Firmen möchten die Meinung der Konsumentinnen und Konsumenten darüber kennenlernen. Dann geht es um Beliebtheit und Akzeptanz. Um hier verlässliche Resultate zu erzeugen, braucht es aber mehr Leute, denn dann geht es um die individuelle Wahrnehmung und um die Frage, ob einem etwas schmeckt oder nicht.
Eignen sich solche Meinungsabfragen auch für die Direktvermarktung in der Landwirtschaft?
Ja, aber man sollte ein methodisch korrektes Vorgehen wählen, damit man die Antworten auch statistisch auswerten kann. Erforderlich wäre dafür, dass man mindestens 60 Personen befragt.
Wie kann man dieses Wissen für die Produktentwicklung nutzen?
Man spricht mit den Kundinnen und Kunden und ist experimentierfreudig. Das Gute an einem Hofladen ist ja, dass die Zielgruppe automatisch erreicht ist und man als Produzent und Vermarkter superschnell reagieren kann.
Es bleibt die Frage, wie offen Hofladen-Kundinnen und -Kunden gegenüber Neuerungen sind …
Ich selbst bin ein grosser Hofladen-Fan und offen für neue Produkte und Erfahrungen. Doch es gibt auch Menschen mit sogenannter Neophobie: Was sie nicht kennen, essen sie nicht, sie wollen es vielleicht nicht einmal ausprobieren. Da braucht es das direkte Gespräch, um zu erfahren, wie die Mehrheit der Stammkundinnen und -kunden tickt. Solche Gespräche können einem auch helfen, herauszufinden, was man wie vermarkten möchte.
Wie beeinflussen kulturelle Unterschiede die sensorische Beurteilung von Lebensmitteln?
Das spielt eine wichtige Rolle, daher testen wir Lebensmittel mit den Menschen vor Ort. Manchmal reizt aber auch das Fremdartige, wie man am Hype um die Dubai-Schoggi sieht. Doch sogar innerhalb der Schweiz gibt es Unterschiede bei den Rezepturen, etwa bei den Kalbsbratwürsten. Die müssen für die Westschweiz einfach «spezifisch» anders schmecken als für die Ostschweiz.
Wie kann man seine Sensorik im Privatleben trainieren?
Man muss auf Lebensmittel einfach neugierig sein, Zutaten oder Gewürze und viel und immer wieder ausprobieren, riechen und schmecken. So trainiert man sich selbst. Spannend kann sein, sich darüber in der Familie oder im Freundeskreis auszutauschen, um den persönlichen Referenzrahmen zu überwinden. Denn wer sich auf ein Lebensmittel spezialisieren will, braucht regelmässiges Training, sonst verlernt man es wieder.
Kommt uns vor lauter Analysieren der Genuss am Essen abhanden?
Essen ist ein Grundbedürfnis, es geht – rein biologisch – um Nährstoffversorgung und ums Gesundbleiben. Allerdings ist der Begriff «gesund essen» für viele ein Absteller. Aber man kann sich genuss- und gleichzeitig sinnvoll ernähren. Den Genuss beim Essen zuzulassen, hat für die Gesunderhaltung unseres Organismus einen nicht zu unterschätzenden Wert. Das wusste schon der griechische Philosoph Epikur.
Was gehört für Sie persönlich zum Genuss über die Festtage dazu?
Bei uns in der Familie gibt es von den Grossmüttern tradierte Rezepte für Weihnachtsplätzchen. Die gehören jedes Jahr dazu, etwa unsere Ingwerln, die Gewürzmonde oder die Nuss-Busserln. Am Weihnachtstag gibt es dann traditionell meist einen gefüllten Truthahn oder auch mal Ente. Ganz wichtig: die Familie muss am Tisch sitzen. Auch das gehört, neben dem Weihnachtsbaum und Kerzen, zu meinem genussvollen «Gesamtpaket» an Weihnachten.
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Zur Person
Annette Bongartz studierte Ökotrophologie (Haushalts- und Ernährungswissenschaften) an der Technischen Universität München-Weihenstephan. Seit 23 Jahren leitet sie die Forschungsgruppe Lebensmittel-Sensorik an der ZHAW.