Ein schwarz-weisses Foto aus dem Jahr 1945. Eine junge Frau mit sehr ernstem Gesicht steht auf der hügeligen Wiese vor einem alten Bauernhaus. «So musste die junge Ida als Zwanzigjährige – wie schon ihre Mutter – ihre Dienstelle aufgeben, um im frauenlosen Bergbauernhof ihren Brüdern den Haushalt zu besorgen», steht unter dem Foto. «Lohn gab es nun keinen mehr.»
Die Einblicke in das Leben von Ida Herger, geborene Roos, sind ein Beitrag auf der Web-Plattform «Unsere Geschichte», auf der sich mehrere tausend Dokumente finden. «Frauen sind aber deutlich untervertreten, vor allem Frauen vom Land», weiss Simone Chiquet. Die pensionierte Historikerin, die viele Jahre für das Bundesarchiv tätig war, arbeitet ehrenamtlich für die Non-Profit-Plattform.
Eckpunkte dokumentieren
Ins Internet gestellt hat die Bilder und Texte zu Ida Herger ihre Tochter Lisbeth Herger, die beruflich als Biographin tätig ist. «Ich wollte damit die wichtigen Eckpunkte im Leben meine Mutter und auch meiner Grossmutter dokumentieren», erklärt sie. Lisbeth Herger schreibt auf der Plattform, dass Ida Roos auf dem abgelegenen Bergbauernhof Schwesteregg im Napfgebiet als eines von acht Geschwistern aufgewachsen ist. «Der Hof liegt anderthalb Wegstunden vom Dorf Romoos entfernt, bis in die 1990er-Jahre gab es keine Zufahrtsstrasse für Autos.» Eine selbstgebaute Seilbahn mit einer Gondel aus einem alten VW-Käfer verkürzte den Weg um eine knappe Stunde.[IMG 2]
1948 heiratete Ida den Bauernsohn Paul Herger. Das Paar erstand in Romoos eine kleine Sägerei. «Das kleine Sägewerk war keine Goldgrube», schreibt Lisbeth Herger weiter. «Die junge Familie wuchs stetig, jedes Jahr kam ein weiteres Kind. Der Alltag war hart und karg.»
In der Silvesternacht 1961 geschah ein grosses Unglück mit der VW-Käfer-Seilbahn, Paul Herger stürzte 34 Meter in die Tiefe. Er überlebte, blieb aber teilinvalid und konnte unter anderem nicht mehr Autofahren. Lisbeth Herger: «Das war für meine Mutter eine Chance der Emanzipation. Als eine der ersten Frauen im Dorf setzte sie sich ans Steuer, chauffierte ihren Mann und machte Taxidienste für das halbe Dorf.»
Die Website wird von der Stiftung Fonsart getragen, die sich für die Erhaltung und Aufwertung des audiovisuellen Kulturerbes der Schweiz engagiert. Unterstützt wird sie zudem von zahlreichen Erinnerungsinstitutionen, wie etwa dem Schweizerischen Nationalmuseum, dem Historischen Lexikon der Schweiz oder der Gosteli Stiftung. Im Jahr 2009 startete das Projekt in der Westschweiz, seit 2023 läuft es auch in der Deutschschweiz.
Der Ansatz der Web-Plattform ist, dass zur Schweizer Geschichte mehr gehört als Zahlen und Fakten, als Bilder von Politikern in dunklen Anzügen und umfangreiche Protokolle von Sitzungen aller Art. Zur Schweizer Geschichte gehört auch das Alltagsleben der Menschen in der Schweiz, das bisher weniger gewürdigt wurde. «Wir wollen vielfältige Quellen verwenden, um die Geschichte der Schweiz abzubilden», so Simone Chiquet. «Dazu gehört, die Geschichten einzelner Personen zu erzählen, die sonst nicht im Fokus stehen.»
Simone Chiquet hat sich als Historikerin unter anderem auf die Geschichte von Frauen spezialisiert. Nach dem Studium beschäftigte sie sich mit «Oral History», mit mündlich überlieferter Geschichte rund um die Zeit des Zweiten Weltkriegs. «War ich für Interviews bei Frauen, sagten die mir oft: Fragen Sie lieber meinen Mann, der war im Aktivdienst», erinnert sich Simone Chiquet. «Die Frauen haben in dieser Zeit ebenfalls viel erlebt, und ich versuchte sie zu motivieren, davon zu erzählen. Denn auch Frauenleben sind erzählwürdig.»
Mehr Frauen vom Land
Auf «unsere Geschichte» sind derzeit mehr Menschen aus dem urbanen Raum sichtbar. Das möchte Simone Chiquet ändern. «Vor allem aus der bäuerlichen Schweiz sind bisher kaum Frauen vertreten», sagt die Historikerin. Im Archiv für Agrargeschichte oder im Gosteli-Archiv gebe es viele spannende Quellenbestände, im Gegensatz dazu konzentriere sich die Plattform hingegen auf einzelne Fundstücke zum Alltagsleben der Bäuerinnen und Bauern.
Sie hofft auf persönliche Fotos, Tondokumente und Geschichten über das bäuerliche Leben, wie etwa über das Leben mit mehreren Generationen, das Kochen und Wirtschaften in einem Grosshaushalt oder auch über Garten-, Acker- und Stallbewirtschaftung.
Wer sich auf der Plattform registriert, kann selbst Dokumente hochladen und publizieren – und bei Bedarf auch wieder entfernen, Anleitungen sind vorhanden. Wer sich das nicht zutraut, bekommt telefonische oder schriftliche Unterstützung. Zudem organisiert das Team hinter der Plattform Workshops zum Veröffentlichen von Texten und Bildern. «Wichtig beim Veröffentlichen ist, dass man auch das Recht dazu hat, die Dokumente zu publizieren», betont Simone Chiquet. Wer etwa das Tagebuch einer noch lebenden Tante hochladen möchte, die beschreibt, wie sie neu auf den Hof kam, braucht deren Erlaubnis.
Persönliche Erinnerungen
Simone Chiquet engagiert sich zudem für Frauen, die ihre Geschichte nicht selbst posten wollen: Sie führt Interviews zu deren Biografien und lädt für sie Dokumente hoch. Ausser auf Frauen vom Land legt sie dabei einen weiteren Schwerpunkt auf Geschichten rund um die Einführung des Frauenstimm- und Frauenwahlrechts. «Meine Mutter hat das Jahr 1971, als dieses auf nationaler Ebene eingeführt wurde, sicher ganz anders erlebt als etwa ein Bundesrat», sagt sie dazu. «Diese Generation stirbt langsam aus. Und dann verschwinden wieder ganz persönliche Erinnerungen, die auch zur Schweizer Geschichte gehören.»
Lisbeth Herger bekam auf die Publikation der Fotos und Texte mehrere Reaktionen. Unter anderem meldete sich ein Mann, der mit ihrem Vater nach dessen Sturz im 12-er-Männerzimmer im Spital lag und der eine Ergänzung auf die Plattform schrieb. Zum anderen von einem Cou-Cousin, dessen Vater auf dem Hof von Idas Herkunftsfamilie aufgewachsen ist. «Er hat sich mit seiner Familiengeschichte auseinandergesetzt», sagt Lisbeth Herger. «Wir trafen uns und hatten sehr intensive Gespräche.»
Weitere Informationen
www.unseregeschichte.ch