Die Corona-Krise hat das Leben vieler verändert. Neue Wege und Möglichkeiten mussten gesucht werden. So erging es auch Gina Orsatti aus Lenzerheide. Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen. 25 Jahre jung, eine KV-Lehre als Kanzlistin, eine Stelle im Unterland. Dann endlich konnte sie sich einen Traum erfüllen: Afrika bereisen. Sie sah und erlebte viel, lernte Land und Leute kennen, war bei den Massai, lebte mit ihnen, als plötzlich überall, auch in der Schweiz, die Corona-Krise ausbrach. Gina Orsatti packte eine der letzten Möglichkeiten und reiste heim, bevor es unmöglich wurde.
Die Arbeitssuche ist schwer
In der Schweiz in dieser Zeit eine Arbeit finden, das wissen alle, ist kein leichtes Unterfangen. Aber nur untätig rumsitzen, spazieren gehen – das ist nicht Gina Orsattis Art. Sie wollte etwas tun, etwas erleben, etwas lernen. Schon immer hatte sie gerne mit Tieren gearbeitet, wollte draussen sein. Gina Orsatti besuchte deshalb mit ihrer Mutter Esti Orsatti den Landwirtschaftsbetrieb, den Vrena Crameri-Daeppen in Surava betreibt. Und sie war begeistert.
Gleich angepackt
Die beiden Frauen kamen nicht nur zu Besuch, sondern sie packten mit an. Sie halfen, machten sich nützlich, wollten viel von den Tieren wissen. Am nächsten Morgen stand Gina Orsatti dann im Stall und fragte, ob sie mithelfen dürfe, es würde ihr hier gefallen. Seither kam sie, manchmal auch in Begleitung ihrer Mutter, regelmässig auf den Landwirtschaftsbetrieb und packte mit an. Für Gina Orsatti ging in Surava eine neue Welt auf. Obwohl sie nicht in einer Stadt aufgewachsen ist, waren ihr das Landleben, die Arbeiten auf dem Bauernhof, die Herkunft der Lebensmittel weitgehend unbekannt. Zunächst war der Kontakt mit den Kühen, dem Jungvieh und den Kälbern, den beiden Pferden, den beiden Katzen und den Hühnern für Gina Orsatti das Wichtigste. Doch sie wollte mehr wissen und erleben. So war sie erstmals in ihrem Leben bei der Besamung einer Kuh dabei, erlebte, wie Vieh Blut entnommen wurde, um dann im Labor untersucht zu werden.
Auch traurige Momente
Gina Orsatti lernte schnell die einzelnen Tiere kennen und unterscheiden. Sie staunte über die verschiedenen Charaktere und «Mödeli». Sie genoss es, die Tiere zu putzen, zu streicheln, Zeit für sie zu haben – und die Tiere, ob gross oder klein, alle wollten Gina Orsattis Zuneigung gewinnen und geniessen. Sie erlebte aber auch die traurigen Momente: Als es etwa hiess Abschied nehmen von der Kuh Esthi und ihrem Jährling Claudia. Denn die beiden wurden zum Schlachthof geführt. Auch die Zeit von Aris und Venus war gekommen – wieder Abschied nehmen. Gina Orsatti erlebte, wie Tiere gehen, wie sich die Herde neu orientiert, wie Lücken gefüllt werden.
Zum ersten Mal befasste sich Gina Orsatti mit der Fleischproduktion. Sie hatte in den vergangenen Tagen gelernt, mit lebenden Tieren umzugehen. Doch was geschieht danach, wenn sie geschlachtet worden sind? Da das Fleisch des Jerseyhof direktvermarktet wird, packte sie die Gelegenheit beim Schopf. Gina Orsatti kam mit, um zu sehen, wie das Fleisch aussieht, wie es verpackt wird. «Schon ein wenig ein mulmiges Gefühl», meinte sie beim Fleischverpacken. «Wenn ich daran denke, dass das hier jetzt Venus ist, dass ich sie sehr gerne gehabt hatte, dass ich sie putzte, streichelte, in den Auslauf führte ….»
Auf dem Jerseyhof spazieren die Hühner tagsüber überall rum und suchen sich ihre Nahrung selbst, baden im Staub, geniessen das sonnige Staubbad. Sie legen auch noch Eier – nur nicht immer dort wo sie sollten. Eben: Hühner
Ein Flair für die Technik
Doch was Gina Orsatti nicht wusste – Hühner leben nicht überall so. Hühner werden heute in der Schweiz zwar nicht mehr in «Batterien» gehalten, sondern in Freilauf- oder Bodenhaltung. Aber, wenn die erste Mauser eintritt, die Eierproduktion sinkt, dann ist auch das kurze Leben der Legehennen fertig: Sie werden «entsorgt». Schlachten ist eher unrentabel, es gibt zu wenig Fleisch pro Huhn.
Doch nicht nur die Tiere faszinierten Gina Orsatti. Auch die Maschinen. Sie lernte, mit dem Mistkran umzugehen, den Mistzetter zu beladen, denn die Wiesen sollten ja gedüngt werden, damit wieder Gras wächst. Dank des trockenen Wetters konnte der Mist dann mit der Wiesenegge eingerieben werden, er zerfiel in kleine Teile, so dass die Nährstoffe in den Boden gelangen und von den Pflanzen aufgenommen werden können. Mist einreiben, das hiess Traktor fahren. Gina lernte schnell, mit dem ihr völlig unbekannten Gefährt umzugehen. Traktor fahren – kein Problem für sie!
Lehrreich und anstrengend
Gina Orsatti, Büroangestellte, begeisterte Tänzerin, reiselustig, hätte sich nie vorstellen können, dass sie sich für Landwirtschaft in all ihren Facetten interessieren würde. Es sei spannend, lehrreich, interessant, anstrengend. Meistens sei sie nach ein paar Stunden auf dem Bauernhof an der frischen Luft todmüde – aber glücklich und zufrieden, sagt sie. Und: Sie freue sich, kaum habe sie Surava verlassen, schon wieder auf ihren nächsten Besuch. Auf die vielfältige, lehrreiche Landwirtschaft und auf all die Tiere, welche sich über ihre Besuche freuen.