Es ist nicht alle Tage der Fall, dass man für einen Preis nominiert wird – und ihn samt Online-Voting gewinnt, ohne etwas davon zu wissen. Genau das ist Mira Durrer passiert. Am 13. Juni erhält die Textildesignerin den Umweltpreis der Albert-Koechlin-Stiftung für ihr Neri-Projekt.
Emmentaler Flachs
Die 34-Jährige setzt sich für eine nachhaltige Textilindustrie ein, indem sie ein Netzwerk für regionale Lieferketten aufbaut. Vom Flachsfeld im Emmental bis zum fertigen Leinenstoff: Mira Durrers Stoffe werden in der Schweiz produziert und sind biologisch abbaubar. Durch gemeinsame Bestellungen können Modeschaffende, Inneneinrichtungsgeschäfte und Privatkund(innen) nachhaltig produzierte Stoffe in kleinen Mengen beziehen. Der Preis bedeutet ihr viel: «Er ist eine mega schöne Anerkennung für alles, wofür ich mich einsetze und wofür ich stehe», sagt Mira Durrer.
Ihre Grossmutter sowie deren Vater arbeiteten bei Jacob Rohner, der Stickereifirma in der Ostschweiz. Das war vor ihrer Geburt, ansonsten gab es in der Kindheit der gebürtigen Solothurnerin keine Anzeichen für einen textilen Lebensweg. Ihre Mutter war im Bioladen tätig – das hat Mira Durrer geprägt. Bis heute kauft sie im Bioladen oder auf dem Markt ein. «Ich will einen möglichst kleinen Fussabdruck hinterlassen. Das umfasst mein ganzes Leben: was ich esse, was ich anziehe, womit ich mich umgebe und wie ich mich fortbewege.»
Handwerklich sollte es sein
Früh war klar, dass es beruflich in eine handwerkliche Richtung gehen würde – Goldschmiedin, Floristin oder Bekleidungsgestalterin waren die Optionen. Letztere Lehre, umgangssprachlich auch als Damenschneiderin bekannt, wurde es dann. Seitdem begleitet sie ihre Liebe zu Textilien.
Bald interessierte Mira Durrer sich weniger für die Konfektion, sondern für das, was davor kommt: die Stoffe. Ihr Weg führte sie über den Bachelor in Textildesign in Luzern bis in ein kleines Handwebatelier in Aarhus, Dänemark, wo sie für Luxuslabels wie Prada und Chanel arbeitete. Diese Erfahrung prägte sie: «Ich habe dort gelernt, sehr exakt zu arbeiten und gleichzeitig verstanden: Handgewebe ist eine exklusive Schiene. Wenn du davon leben willst, musst du in die Hochpreissparte.»
Zurück in der Schweiz, sammelte sie Erfahrungen in der Industrie, unter anderem bei den Unternehmen Ruckstuhl und Lantal. Doch die Frage blieb: Passt die industrielle Welt zu meiner Haltung? Eine Antwort fand sie während ihrer dreijährigen Tätigkeit bei Lantal Textiles AG und dem Aufbau eines Design-Teams in einer portugiesischen Tochterfirma der Firma in Porto – und entschied sich danach bewusst für eigene Projekte. Heute unterrichtet sie an zwei Tagen pro Woche Gewebeentwurf im HF Textildesign in Basel, hat ein Atelier mit Handwebstühlen und engagiert sich im Verein Fibershed-DACH.
Gleichzeitig entstand während ihres Masterstudiums in Luzern das Neri-Projekt. Die Idee: hochwertiger Leinenstoff, vom Anbau bis zum fertigen Produkt komplett in der Schweiz produziert. «Ich will wissen, wo der Flachs wächst, wer ihn verarbeitet, wer webt», sagt Durrer. Der Flachs stammt aus Willadingen BE, angebaut von Adrian Brügger, einem Pionier von Swissflax. «Ich will auf dem Feld stehen und mir die Flachspflanzen ansehen können.» Genau das tut sie regelmässig: «Im Dezember war ich wieder dort und habe den Winterflachs besichtigt.»
Fünf Meter dies, zehn Meter das
Gewebt wird bei der Minnotex GmbH in Herzogenbuchsee BE. Die Suche nach einem geeigneten Partner war nicht einfach. Viele Webereien arbeiten nur mit grossen Mindestmengen. Minnotex, spezialisiert auf kleinere und mittlere Aufträge, war offen für eine Zusammenarbeit.
Ein erster Testlauf mit 100 Metern war ein Erfolg. Um die hohen Stückkosten zu reduzieren, arbeitet Mira Durrer mit einer fixen Leinenkette – dem Garn, das auf dem Webstuhl gespannt wird und die Grundstruktur bildet. Diese Kette kauft sie im Voraus und nutzt sie als stabiles Fundament für ihre Kollektionen. «Innerhalb dieser Kette kann ich mit Farben und Bindungen spielen – fünf Meter hiervon, zehn Meter davon. So kann ich kleine Mengen individuell gestalten, ohne ständig den Webstuhl neu einrichten und die technischen Einstellungen ändern zu müssen.» Das Garn wird dabei nicht nachträglich, sondern vor dem Weben gefärbt – weitgehend pflanzlich, etwa mit Eiche für Anthrazit. Ab der nächsten Produktion soll ausschliesslich pflanzengefärbtes Garn zum Einsatz kommen.
Die Stoffe sind nicht nur nachhaltig, sondern auch ästhetisch – mit spürbarer Textur und Charakter. «Ich liebe Leinen», sagt sie begeistert. Es sind die kleinen Unregelmässigkeiten der Faser, die sie faszinieren – und die Eigenschaften: «Leinen ist angenehm zu tragen, kühlt im Sommer, wärmt im Winter, ist geruchsneutral, langlebig, robust und nimmt Feuchtigkeit auf und gibt sie wieder ab. Ich habe eine Bettwäsche aus Neri-Stoff – sie ist eher schwer, aber fühlt sich unglaublich gut an.»
Neue Fähigkeiten
Ob für Vorhänge, Kissenbezüge oder Mode – das Leinen richtet sich an Modedesigner(innen), Inneneinrichter, Stoffläden und bewusste Konsumentinnen. Dafür braucht es viel Kommunikation und Netzwerkarbeit. «Ich verkaufe nicht nur Stoff – ich erzähle eine Geschichte.» Und genau diese ist ihr stärkstes Verkaufsargument, denn das Neri-Leinen hat seinen Preis – 110 bis 120 Franken pro Meter. «In letzter Zeit bin ich irgendwie auch Marketingfachfrau geworden», sagt Mira Durrer mit einem Lächeln. Alles, was es an Kommunikation braucht – Social Media, Karten verschicken, Läden und Showrooms besuchen, Messe-Teilnahmen planen – erledigt sie selbst. Unterstützung bei rechtlichen und organisatorischen Themen wie AGB, Datenschutz oder Buchhaltung erhält sie über die Hochschule Luzern.
Leben kann sie von der Selbstständigkeit noch nicht, hat jedoch diesen Anspruch auch nicht, da sie die Lehrtätigkeit als perfekte Ergänzung habe. Beides befruchtet sich gegenseitig – und es ist Mira Durrer wichtig, diese Abwechslung zu behalten. «Das Geld aus den ersten Stoff-Verkäufen liegt auf einem separaten Konto – das rühre ich nicht an. Wenn überhaupt, wird es wieder ins Projekt investiert.»
Kein Nostalgieprojekt
Neben der Anerkennung durch den Umweltpreis der Albert-Koechlin-Stiftung freut sich Mira Durrer auch über das Preisgeld von 11 111 Franken: «Ich kann damit mein Darlehen von 10 000 Franken zurückzahlen.» Neben ihr werden am 13. Juni in der Schüür in Luzern acht weitere Persönlichkeiten ausgezeichnet, die sich in verschiedenen Umweltbereichen engagieren – anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Preises.
Für Mira Durrer ist aber klar: Neri soll kein nostalgisches Herzensprojekt bleiben, sondern wirtschaftlich tragfähig sein. «Ich gebe dem eine echte Chance. Aber wenn ich merke, dass es nicht funktioniert, ziehe ich Konsequenzen. Ich glaube aber an die Zukunft der Schweizer Textilindustrie – in Nischen, in kleinen Mengen, im Handwerk. Flexibel und regional.»
Sie alle gewinnen
Neben Mira Durrer werden auch folgende Personen dieses Jahr mit dem Jubiläums-Umweltpreis der Albert-Koechlin-Stiftung ausgezeichnet:
Pirmin Bucheli, St. Urban LU:
Der Biolandwirt und Präsident des Wässervereins Rottal hält Legehennen und Mutterkühe auf extensiven Weiden. Der Hof umfasst einen Hofladen, Wässermatten, Biodiversitätsförderflächen und einen Karpfenteich.
Armin Häfliger, Luzern:
Der Gründer von «Meinrad» produziert mit seinem Team täglich im grossen Stil Mittagessen und Säfte aus biologischen Zutaten. Viele Zutaten kommen direkt von regionalen Bio-Betrieben. Die Produkte werden per Lastenvelo geliefert.
Angela Hasler-Zehnder, Einsiedeln SZ:
Sie ist Co-Präsidentin des Vereins «Wildbiendli-Paradies Einsiedeln», welcher aktiv die Biodiversität fördert und neben dem Kloster Einsiedeln ein begehbares Naturparadies geschaffen hat. Bei Einsätzen – auch mit Schüler(innen) – gibt es Informationen über Wildbienen und Pflanzen sowie den Zusammenhang von Flora und Fauna.
Lena Bühlmann, Dagmersellen LU:
Sie leitet Projekte zur Aufwertung von Wald und Offenland im Namen von «Hauptsach Natur» und hat sich auf natürliche Quellen als Lebensraum, Beweidung von Naturschutzgebieten und Bekämpfung invasiver Neophyten spezialisiert.
Sebastian Ineichen, Kastanienbaum LU:
Er führt mit seinem Team den Bio-Gemüsebetrieb Mattli in Kastanienbaum bei Luzern, betreibt einen Hofladen und bietet ein Gemüse-Abo an. In Begleitbriefen zu den gelieferten Gemüsekistchen informiert er über die Produktion.
Jonas Imfeld, Geuensee LU:
Er führt zusammen mit seiner Familie die historische Bio-Mühle und den dazugehörigen Bio-Bauernhof in Geuensee. Mit dem Anbau und Verkauf der alten Getreide Emmer und Einkorn sowie der Haltung von ProSpecieRara-Schafen fördern sie die Artenvielfalt.
Madeleine Michel, Sarnen OW:
Die Gemüsegärtnerin und Landwirtin verfolgt sie das Ziel, vielen Menschen den Zugang zu saisonalem Gemüse zu ermöglichen. Im Fokus steht dabei der gemeinschaftliche Gemüseanbau bei Urproduktion oder im Selbsterntegarten.
Chato Schilter, Stalden OW:
Chato Schilter führt den Bio-Lamahof Mirgg und setzt auf umweltschonenden Anbau und handgemachte Produkte wie Tees oder Kräutermischungen. Der Hof engagiert sich in der Landschaftspflege und Freizeitgestaltung sowie in der tiergestützten Arbeit mit Jugendlichen in Krisensituationen.