Flawil «Der Bedarf an Betreuungsangeboten auf Bauern­betrieben ist da», sagte Karin Wyss vom Verein «Carefarming Schweiz» am vergangenen Dienstag eingangs einer gut besuchten Informationsveranstaltung am Landwirtschaftlichen Zentrum St. Gallen in Flawil. Der 2014 gegründete Verein hat bereits Anlässe, Tagungen und Erfahrungsaustausche organisiert und dient auch der Vernetzung von Betreuungsdienstleistungen im ländlichen Umfeld.

Depressionen sind verbreitet

«Wir Bauern bieten Tiere, Natur und das gewisse Etwas, was uns für Betreuungsangebote besonders interessant macht», hielt Karin Wyss fest. So sei der Fa­milienanschluss in einer le­bendigen, authentischen und nachhaltigen Umgebung als bedeutender Pluspunkt zu sehen. Was die Art von Betreuung und Zielgruppen betrifft, bestehen grosse Unterschiede: Es können Kurz- oder Langzeitaufenthalte angeboten werden, mit Übernachtung oder auch nur einige Stunden am Tag. Zielgruppen sind etwa Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen, Senioren, Menschen mit geistiger Behinderung, psychisch Erkrankte, Personen im oder nach dem Strafvollzug, Arbeitslose oder Flüchtlinge. Gerade bei psychischen Erkrankungen sei der Betreuungsbedarf am Steigen. Um deren gesellschaftliche Relevanz zu veranschaulichen, stellte Wyss einige Zahlen in den Raum: Mehr als ein Fünftel der Erwerbstätigen leidet unter Stress, die Hälfte davon ist Burnout-gefährdet. Ein Fünftel der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an einer Depression und ein Fünftel der Kinder hat einen Elternteil mit einer psychischer Krankheit.

«Bei der Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zeigt sich besonders, dass der Klient nicht als Arbeitskraft gesehen werden darf und im Umgang mit ihm viel Geduld erforderlich ist», betonte Wyss. Generell dürfe nicht von einer Mitarbeit der Klienten ausgegangen werden, wenn auch einige der Betreuten tatsächlich gerne und viel anpacken. Zudem müsse auch mit Krisen gerechnet werden, die sich zu Unzeiten ereignen können, also auch zu betrieblichen Spitzenzeiten.

Weitere Knackpunkte: Als Bauernfamilie, die Betreuungsbedürftige aufnimmt, muss man mit einer gewissen Selbstoffenbarung leben. Nicht immer hat man zudem Zeit, ausgiebig auf die Bedürfnisse der Klienten einzugehen. Auch muss der Hof als Aufenthaltsort sicher sein und Platz bieten. Und nicht zuletzt: Leben Betreuungsbedürftige auf einem Bauernhof, haftet dem noch immer ein wenig der Verding-Ruf an, auch wenn die Situation davon weit entfernt ist.

Je nach Angebot braucht es Bewilligungen 

«Wer sich als Bauernbetrieb überlegt, mit Betreuung einen neuen Nebenerwerb anzufangen, muss sich vorgängig über vieles klar werden», sagte Karin Wyss. Grundsätzlich sollte die ganze Familie dahinterstehen können. Zudem sei es wichtig, zu schauen, welche Klientengruppe mit welchem Angebot am besten zu einem passt. Ein Beispiel: Wer zeitintensiv produziert, kann nicht gleichzeitig intensiv betreuen. Es sei aber beispielsweise möglich, nur temporäre Betreuungsplätze anzubieten, etwa für Ferien oder Timeouts.

Auftraggeber sind beispielsweise Sozialdienste, Invalidenversicherung, Kinder- und Erwachsenschutzbehörde Kesb, soziale Institutionen oder psychiatrische Sozialdienste. Je nach Angebotsart sind auch Bewilligungen erforderlich, was je nach Ort unterschiedlich gehandhabt wird. Sollen Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren betreut werden, braucht es beispielsweise eine Bewilligung der Kesb. Was die betreuerische Ausbildung betrifft, bestehe Spielraum. Da es sich hier um familienintegrierte Betreuung im kleinen Rahmen handelt, werden diesbezüglich weniger hohe Anforderungen gestellt als bei der Heimbetreuung», sagte Wyss. «Wichtig ist: Wenn man sich mit dem Thema auseinandersetzt, kann man selbstbewusst vor Behörden und Institutionen hinstehen. Zudem zählt auch die Lebens- und Arbeitserfahrung.» Mehr wird verlangt, wenn Spezialkenntnisse nötig sind, etwa in der Pflege.

Wyss selbst ist Quereinsteigerin: 2009 kaufte sie zusammen mit ihrem Mann im Emmental einen kleinen Hof. Als sie den «Tierhof Mühleweg» gründeten, konnte sie Ausbildungen als Spielgruppenleiterin sowie als tiergestützte Therapeutin vorweisen, aber nicht in der Betreuung. Derzeit betreut das Paar drei Frauen, welche an Depressionen erkrankt sind und auf dem Hof leben. Es wird dabei von einer Teilzeitmitarbeiterin un­terstützt. Diese Aufgabe ist das Hauptstandbein. Eine grosse Rolle spielen dabei auch die verschiedenen Tiere, welche den Hof beleben. Ein grosser Garten gehört ebenfalls zum Betrieb, der zu klein ist für Subventionen. Produziert wird grösstenteils zur Selbstversorgung. Wyss sieht bei ihren Klientinnen bereits messbare Fortschritte: Die Medikation habe reduziert werden können, die Frauen seien auf dem Hof sichtbar aufgelebt.

Eine interessante und lehrreiche Erfahrung

Die Familie Wyss bietet ihre Betreuungsplätze sowohl auf eigene Faust wie auch über eine Familienplatzierungsorganisation (FPO) an. Während auf selbstständiger Basis mit Tagespauschalen von 120 bis 160 Franken gerechnet werden kann, sind über eine FPO 70 bis 120 Franken zu erwarten. Bei beiden Modellen sind in den Pauschalen bereits 35 Franken für Kost und Logis einberechnet. Ausserdem müssen davon Sozialleistungen oder Sozialabgaben erbracht werden und es können Spesen anfallen. Wer selbstständig unterwegs ist, rechnet zudem mit Kosten für Weiterbildung. «Ob man lieber selbst oder über eine Organisation tätig ist, sollte man zuerst herausfinden», sagte Karin Wyss. Abschliessend hielt sie fest: «Betreuungsdienste auf einem Hof bringen allen etwas, auch wenn die Aufgabe nicht immer einfach ist. Aber man lernt bei dieser interessanten Tätigkeit viel dazu.»