Frau Brombach, fassen auch Sie jeweils Neujahrsvorsätze in Sachen Ernährung?
Christine Brombach: Ich kenne das, wenn auch nicht unbedingt an Neujahr. Aber zum Beispiel bei «sieben Wochen ohne», der Fastenaktion der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ich stecke wie wir alle in Zwängen und Gewohnheiten, die ich manchmal ändern will. [IMG 2]
Wo können wir starten, wenn wir gesünder essen wollen?
Essen ist tief verwurzelt in unserem Alltag, unseren Gewohnheiten und in unserer Gefühlswelt. Abrupte Änderungen – ab sofort soll alles anders werden – sind da eine Illusion. Das merkt man nur schon an Kleinigkeiten.
Wie steigen die Erfolgschancen?
Viele der Vorsätze sind rational: Etwa, ich will gesund essen, weil ich abnehmen oder den Blutfettwert senken will. Doch das rein rationale Vorgehen funktioniert nicht. Will ich etwas Neues lernen, muss ich das alte erst verlernen. Wer ein Instrument spielt, weiss: Hat sich in einem Stück ein Fehler eingeschlichen, muss man fleissig üben, um diesen Fehler wieder loszuwerden.
Es braucht ein bewusstes Herangehen?
Ja, und das ist anstrengend und eigentlich gegen unsere evolutionäre Natur. Abläufe, Routinen und Gewohnheit sind wichtig. Sie helfen uns, den Alltag in seiner Komplexität zu bewältigen. Zudem spielen auch emotionale Muster mit hinein.
Wie meinen Sie das?
In der Fastenzeit verzichte ich zum Beispiel auf Kaffee. Doch das fällt mir extrem schwer. Das Ritual, sich am Morgen mit einem Kaffee hinzusetzen und den Tag anzudenken, fehlte mir. Schliesslich ersetzte ich den normalen Kaffee durch Lupinenkaffee aus der Schweiz. Das hat mir geholfen. Ich musste mir einen Weg bahnen, damit es einfacher wurde, und dazu die gewohnten Strukturen nutzen.
Dann braucht es Tricks, um Veränderung zu verankern?
Essen ist hochgradig mit emotionalem Kontext verknüpft. Das zeigen jedes Jahr die Weihnachtstage. Denn Essen ist auch Emotionalität, Heimat, Zugehörigkeit. Das verknüpfen wir mit dem immer Wiederkehrenden, mit Familie. Veränderung verunsichert. Daher finden wir Ausreden, verschieben das Ganze, und die alten Gewohnheiten schleichen sich wieder ein. Das gibt uns eine gewisse Sicherheit.
Aber nach den Festtagen plagt viele ein schlechte Gewissen ...
Oft hört man über festliche Mahlzeiten: «Ich habe gesündigt.» Das ist ein dogmatischer Anspruch, dahinter steht das Gefühl von Schuld, das man auf sich lädt und die grundlegenden Erkenntnisse, dass ich immer schuldbeladen bin, wenn ich esse. Denn dafür muss ich etwas Lebendiges töten, egal ob das ein Kohlkopf ist oder ein Schwein. Ich muss töten, damit ich leben kann.
Wie findet man damit einen Umgang?
Aus dem grundlegenden Paradox kommen wir nicht raus. Aber wir können versuchen, damit umzugehen: Für das Essen danken, achtsam damit umgehen, Verschwendung vermeiden. Wir tragen auch beim Essen Verantwortung.
Wem gegenüber?
Zum einen mir selbst gegenüber, zum anderen der Umwelt gegenüber. Denn das gesunde Essen verlagert sich nach aussen: Ich esse gesund, weil es umweltfreundlich ist. Ein schlechtes Gewissen hat man aber auch oft jenen gegenüber, die die Lebensmittel produzieren, teils unter schwierigen Bedingungen. Dazu gesellen sich die gesellschaftlichen Erwartungen, gerade bei Frauen: wir sollen schön, schlank und fit sein. Wenn wir das nicht erreichen, sind wir selbst schuld. Also fange ich mal auf dem Teller an, etwas zu verändern. Dort habe ich eine Stellschraube.
Wie weit ist das gesund?
Das kann auch Richtung Essstörung führen. Das ist eine tragische Entwicklung. Denn alles, was extrem ist, ist nicht gesund.
Wir werden mit Ernährungsinformationen überflutet. Woran können wir uns orientieren?
Mit den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung ist man grundsätzlich gut beraten. Das sind wissenschaftlich fundierte Quellen. Hingegen ist das, was laut und bunt schrillt, nicht unbedingt gesund.
Widerspricht sich die Wissenschaft nicht oft selbst?
Stimmt, das verunsichert. Doch in der Wissenschaft ist das völlig normal. Da diskutiert man heftig, wissenschaftliche Erkenntnisse sind nun mal vorläufig. Im Alltag möchten wir aber klare und verlässliche Regeln. Die Fülle an Informationen und des Angebots überfordert uns.
Machen wir uns in der Schweiz zu viele Sorgen ums Essen?
Es gab noch nie so viele hochwertige Lebensmittel wie heute, in dieser Fülle und in der Verfügbarkeit. Das ist wie ein Schlaraffenland, doch das hat bekanntlich auch seine Makel.
Welches sind die grössten Risiken?
Aus Gesundheitssicht sind es chronische Erkrankungen, wie Übergewicht, Diabetes, Schlaganfall, Herzinfarkt. Das sind alles Droh-Szenarien. Doch man könnte es auch anders angehen.
Wie denn?
Wenn ich anfange, die fehlende Wertschätzung und Dankbarkeit neu aufzugreifen. Dann merke ich, dass das, was ich auf dem Teller habe, etwas Aussergewöhnliches ist. Da stehen Traditionen und Menschen dahinter, die es hergestellt und verarbeitet haben. Da steckt viel kulturelles Erbe drin, etwa bei Käse, Wein, Brot. Dann gehe ich anders damit um. Dann stopfe ich mich nicht damit voll, dann werfe ich es nicht weg. Dann verändert sich was. Das hat viel mit meiner Einstellung zu tun.
Wo können wir anfangen, nachhaltig etwas zu verändern?
Indem ich die Zusammensetzung von dem, was ich auf dem Teller habe, etwas verschiebe: Der Gemüseanteil sollte die Hälfte ausmachen. Klar ist, dass unsere Ernährung stärker pflanzenbetont sein sollte. Trotzdem haben alle Lebensmittel auf dem Teller Platz, auch Fleisch und Milchprodukte. Doch mehr Früchte, Gemüse, Nüsse und Hülsenfrüchte wären gesünder.
Wer bestimmt, was wir in Zukunft essen?
Es braucht uns Konsumentinnen und Konsumenten, die im Laden mitbestimmen, was wir kaufen. Es braucht aber auch die dahinter liegenden Akteure. Jede muss ihren Teil verantwortlich gestalten. Derzeit schiebt jeder die heisse Kartoffel von Verantwortung weiter. Häufig fehlt die Transparenz.
In welchem Bereich?
Wir als Konsumentinnen wissen oft nicht genau, was alles in einem Produkt ist. Gewisse Produkte kommen nicht in den Laden, weil sie als unverkäuflich gelten. Auch möchten wir sicher sein, dass ein Teil des Produktpreises tatsächlich an die Primärproduzenten geht. Anderseits müssen wir begreifen, dass gute Lebensmittel einen Preis haben, der den Herstellungs-prozess widerspiegelt. Zudem braucht es mehr Bildung.
Trotz der Informationsflut?
Es fehlt praktisches Wissen. Jeder weiss in der Theorie, wie man sich gesund ernährt. Doch wie setzte ich das im Alltag um? Welche Fertigkeiten brauche ich? Oft bleiben wir in Sachen Ernährung auf dem Niveau des Schulwissens stehen, doch Lebensmittel und Angebot verändern sich. Auch unser Leben verändert sich, etwa weil wir Familie haben, älter oder krank werden.
Also können wir mit gutem Gewissen das Detox-Programm im Januar streichen?
Ja, machen Sie lieber einen Spaziergang. Verbissenheit bringt kaum etwas. Sie führt eher zu Frustration, wenn ich zwei Wochen etwas durchgehalten habe und dann wieder in alte Gewohnheiten kippe.
Was bringt eine langfristige Veränderung?
Wenn wir die Veränderungen beim Essen nicht radikal angehen, sondern in kleinen Schritten. Das braucht zwar Zeit, doch das bleibt uns dann.
Zur Person
Prof. Dr. Christine Brombach arbeitet seit 2009 an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil ZH. Sie ist Dozentin im Bereich Lebensmittelsensorik. Diese Forschungsgruppe befasst sich mit Themen der sensorischen Analytik und Konsumentenforschung. Sie ist zudem Mutter von drei erwachsenen Kindern, die noch zuhause wohnen. Auf die Frage, wie sie selbst kocht, antwortete Christine Brombach: «Unter der Woche soll es möglichst bunt auf dem Teller sein. Das Essen soll viel frisches Gemüse enthalten, wenn es geht aus der Region. Und muss es schnell gehen, da ich berufstätig bin.»
Studie »Essen der Zukunft»
Die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften erarbeitete im Auftrag der deutschen Heinz-Lohmann-Stiftung im letzten Jahr eine Studie zu den Einflussfaktoren auf das Ernährungsverhalten.
Eine Erkenntnis aus der Studie: Ernährungsfachpersonen werden zu wenig wahrgenommen. Christine Brombach: «Die Kommunikation spielt sich auf den Social-Media-Kanälen ab und wird von Influencern und selbst ernannten Autoritäten dominiert. Sie geben überwiegend nicht wissenschaftlich fundierte Empfehlungen. Das birgt für Nutzerinnen und Nutzer sogar potenzielle gesundheitliche Risiken.»
Neben der Kommunikation sind Bildung, Politik und Handel entscheidende Akteure für eine zukunftsfähige Ernährung. Doch der Weg dorthin wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterschiedlich bewertet. So setzt die Schweiz im Gegensatz zu den beiden Nachbarländern mehr auf Selbstverantwortung. Die Frage, wie viel der Staat bestimmen darf und mit Regeln auf die Ernährung einwirken soll, wird hier stark diskutiert.
Die «Eat lancet Planetary Health»-Studie
Die EAT-Lancet-Kommission besteht aus 37 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 16 Ländern. Sie arbeiten in unterschiedlichen Forschungsbereichen, wie Ernährung, Gesundheit oder Nachhaltigkeit. Das Ziel der Kommission: Eine wissenschaftliche Grund-lage finden, wie wir ressourcenschonend in Zukunft zehn Milliarden Menschen auf der Erde satt bekommen. Die Wissenschaftlerinnen erarbeiteten eine Art Durchschnittsempfehlung, die je nach Land und persönlicher Situation auf den Alltag angepasst werden muss. So hat ein Student der ZHAW mit Rezepten aus Schweizer Kochbüchern einen entsprechenden Wochenmenüplan erstellen. Christine Brombach: «Das funktioniert. Es gibt viele wunderbare Gerichte in der Schweiz, die bereits passen.»
Die Schweiz müsse nicht vegan werden, betont sie, um sich gemäss diesen Empfehlungen zu ernähren. Die Studie zeige vielmehr auf, dass wir durchaus tierische Produkte nutzen können, aber in anderen Mengen.
Weitere Informationen: www.eatforum.org/eat-lancet-commission