Am 10. Februar 1909 wurde Anton Steiner tot aufgefunden, im Geisskeller des Gasthauses zum Schwert in Muotathal. Im Tal war er überall als der «Ringgeler» bekannt, wegen seiner Gewohnheit, die Hosenstösse aufzukrempeln. Er sei 64 Jahre alt geworden, bescheinigten die behördlichen Dokumente, bei einer «mehr als einfachen Lebensweise». Als Geisshirt sei er im Bergtal unterwegs gewesen, fünf Jahrzehnte lang.
Ziegen für Existenzsicherung
Einen Geisskeller oder Verschlag hatten etliche Häuser zu dieser Zeit. Ziegenhaltung war für arme Familien ohne eigenes Land eine Existenzsicherung. Sie verschaffte ihnen täglich ihre Milch und gelegentlich etwas Fleisch. Aber sie war nur möglich, wenn sich für die Tiere ein Hüter finden liess, welcher mit dem Auftrieb – im Muotatal «Ghütti» genannt – umherzog und sie auf Weideland führte. Um den eher «schnäderfrässigen» Geissen passendes Grünfutter zu bieten, waren lange Wege zu bewältigen.
Geissenbauernpartei-Liste
«Geisslära» ist eine Tätigkeit, die selbst im Tal heute nur noch ältere Menschen kennen. Aber zu Lebzeiten von Ringgeler war deutlich geworden, dass längst nicht alle Muotataler wohlhabend waren. Bei den Kantonsratswahlen Anfang des letzten Jahrhunderts sahen sich die Katholisch-Konservativen dort plötzlich mit einer «Geissbauernpartei-Liste» konfrontiert. Und die war dann auch noch erfolgreich. Im Bundeshaus in Bern musste der damalige Schwyzer Ständerat Rudolf von Reding dies seinem Ratskollegen Eduard Schulthess zu erklären versuchen.
Geissen auf Allmeind-Land
Ein Muotataler «Geisslär», der mit seiner Ziegengruppe passende Weiden aufsuchte, musste unterwegs darauf achten, dass die Tiere nicht irgendwo im «Eigen» – will sagen Privatbesitz – grasten. Allmeind-Land sollte angepeilt werden, Wiesland, das gemeinzugänglich war. Und dabei sollten die von alters her bestimmten «Geisswege» eingehalten werden. Meist waren die «Ghütti» dafür in Richtung Lipplis und Wasserberg unterwegs, wo freies Oberallmeind-Territorium war. Dort beweideten die gewandten vierbeinigen Kletterer auch noch steilste Borde und Bergweiden. Abends zum Melken mussten sie aber wieder pünktlich bei ihren Besitzern zurück sein, mit dank vielen schmackhaften Kräutern prallgefülltem Euter am liebsten. Meist seien die Geisseler zu zweit unterwegs gewesen, wie der Muotathaler Lokalhistoriker Walter Imhof im Lokalmagazin «Zirk» berichtete. Nebst «Gantebei» und «Ringgeler» sei der «Büebselers Tönel» einst ein bekannter Geisshirt gewesen. Da im Tal praktisch alle Bewohner Betschart oder Gwerder heissen, sind dort seit jeher Abstammungs-, Berufs- und Hofbezeichnungen zur Identifizierung von Personen im Gebrauch.
Mit dem Örgeli unterwegs
Arg zerschlissen präsentiert sich die «Aaleggi» von Ringgeler auf der Fotografie, die wohl ums Jahr 1908 gemacht wurde. Es scheint an dem Duo ziemlich alles «Secondhand» zu sein, selbst Brotsack, Schirm und Schuhe. Ganz offensichtlich trägt Ringgeler zwei desolate Hosen übereinander. Aber: Ringgeler ist auch mit einem Örgeli unterwegs. Es ist nicht ein wertvolles Schwyzerörgeli, wie sie zu dieser Zeit bereits von Alois Eichhorn in Schwyz hergestellt wurden, sondern eine Billigvariante. Es ist ein Regal Melodeon, ein Modell der Firma Hohner, mit zehn Tönen und zwei Registern. Diese Handorgel war «das preiswerteste Instrument im Markt». Schon drei Jahre nach dem Start der Akkordeonproduktion bei Hohner im Schwarzwald wurden im Jahr 1906 über hunderttausend dieser Instrumente hergestellt. Ob der Ringgeler darauf virtuos aufspielte, ist nicht überliefert.
Gesichert ist aber, dass er seine Herde Ziegen virtuos dirigierte. Das steht in einer alten «Schweizer Familie» aus dem Jahre 1905, welche das Staatsarchiv Schwyz aufbewahrt. In einem Artikel, betitelt «Typen aus dem Muotathal», ist unter anderen auch Ringgeler mit einem Foto aus jüngeren Jahren zu sehen. Dazu steht: «Ringgeler, der Ziegenhirt, befehligt zirka 130 ‹Rekruten›, mit ‹Hörnern und zottiger Brust›. Seine Kommandos werden pünktlicher ausgeführt als in manch eigentlicher Kompanie. Will er mit seiner ‹Armee› links oder rechts abbiegen, ruft er ein Wort und der ganz lange Zug schwenkt in angegebener Richtung ab.» [IMG 2]
Schwierige Winterzeit
Im Foto ist bei Gantenbein, dessen Vorname nicht gesichert ist, ein Kropfleiden unverkennbar. Solch eine Drüsenschwellung, medizinisch «Struma», war in jener Zeit noch häufig. Trotzdem wurden Betroffene gern abschätzig als «Kropfli» bezeichnet und diskriminiert. Eine Abhilfe für die Geschwulste wurde erst 1920 entdeckt, vom Schweizer Arzt Hans Eggenberger; durch eine simple Jodierung des Kochsalzes konnte das Übel in der Schweiz eliminiert werden. Für Ringgeler und Gantenbein war das Winterhalbjahr eine schwierige Zeit. Sie mussten herumziehend irgendwo ein Auskommen suchen, was dann in weiten Kreisen mit Vagabundentum gleichgesetzt wurde. Selbst im Wikipedia-Lexikon erscheint ihr Bild unter «Jenische». Und die Bezeichnung «Fecker» mussten sie sich auch gefallen lassen.