«Schritte am Limit» – so lautet das Thema des Gesprächsabends, organisiert vom Oberaargauischen Landfrauenverein, den ehemaligen Waldhofschülerinnen und dem Inforama in Madiswil. Zwei Personen, deren Leben unterschiedlicher nicht hätte verlaufen können, erzählen in der gut besuchten Linksmähderhalle von ihrer Vergangenheit. Eines vereint Andreas Neugebauer, ehemaliges Verdingkind und heutiger Manager sowie die eidg. diplomierte Bergsteigerin Evelyne Binsack (siehe Kästen unten): Beide sind in ihrem bisherigen Leben Schritte am Limit gegangen.
Nicht immer einfache Kost
Die Szenerie auf der Bühne mit farbigen, gemütlichen Sesseln und frühlingshaft-fröhlicher Dekoration vermittelt Wohnzimmeratmosphäre. Nicole Reusser, Bäuerin und Lehrerin Hauswirtschaft am Inforama, moderiert das Gespräch auf erfrischende Art und Weise, aber immer sehr einfühlsam. Auch wenn viel gelacht wird, sind einige Erlebnisse der Gesprächspartner nicht immer leichte Kost. Das wird besonders deutlich, als die Moderatorin aus den jeweiligen Büchern, die Binsack und Neugebauer geschrieben haben, Passagen vorliest. Sowohl die Bergsteigerin als auch der Manager zeigen sich dabei tief bewegt.
Zur Person: Andreas Neugebauer
Andreas Neugebauer wurde 1964 geboren. Mit elf Jahren wurde er von seiner Mutter abgegeben. Während sieben Jahren erlebte er als Verdingkind bei einer Bauernfamilie im Oberaargau Schläge, Psychoterror und Kälte, letzteres sowohl emotional als auch körperlich. Als 17-Jähriger floh er in die vermeintliche Freiheit, lebte ein Leben am Limit. Musik, Drogen und Autodiebstahl bestimmten eine Zeit lang sein Leben. Später holte er mit Fleiss und Durchhaltewillen den Schulabschluss nach, machte eine Logistiklehre, bildete sich stetig aus und weiter, arbeitete sich zum Manager bei der Schweizerischen Post hoch, bis dann der Zusammenbruch erfolgte. Ende 2021 erschien sein Buch «Aufrecht gehen». Heute arbeitet er als Motivationscoach.
50 Jahre her und dennoch präsent
«Wir sind auf der Welt, um Fehler zu machen, aus Fehlern zu lernen, und auch, um zu verzeihen.» Dieser Meinung ist Andreas Neugebauer, der sieben Jahre seiner Kindheit als Verdingkind verbrachte. Der heutige 61-Jährige hat verziehen, hat seine Vergangenheit aufgearbeitet, aber vergessen werde er nie, erklärt er. Vergangenen Monat jährte sich sein Weggang vom Elternhaus zum 50. Mal. Doch noch immer ist dieser Moment beim 61-Jährigen präsent.
Für seine Träume kämpfen
«Das muss so sein, es ist das Beste für dich», liest Nicole Reusser aus dem Buch von Andreas Neugebauer vor. Dessen Mutter sprach diese Worte, als er weggebracht wurde. Die Zeit vor dem Jahrestag habe ihn sehr aufgewühlt. Rasch habe er aber auch Dankbarkeit empfunden. «Denn ich habe die letzten 50 Jahre vieles richtig gemacht», bekennt er und erntet damit Szenenapplaus. «Ich sagte mir immer wieder: Kämpfe für deine Träume. Ich habe viele Umwege gemacht. Aber jeder hat mir das Werkzeug gegeben, um weiterzukämpfen», betont Andreas Neugebauer.
«Wir sind auf der Welt, um zu verzeihen.»
Andreas Neugebauer hat seine Kindheit als Verdingkind aufgearbeitet.
Stets weiter- und sich ans gesetzte Ziel gekämpft, hat auch Evelyne Binsack. 1967 geboren, erlebte sie eine schöne, aber, bedingt durch den eher gefühlskalten Vater, auch nicht immer einfache Kindheit. Als jüngste Alpinistin erlangte sie das Bergführerdiplom. In den Bergen läuft Evelyne Binsack Schritte am Limit. Ihre in der Kindheit erlangte erhöhte Aufmerksamkeit habe ihr da auch schon das Leben gerettet, erzählt sie. Die Expeditionen an die beiden Pole hätten ihr mental und körperlich viel abverlangt, gesteht sie. Kraft habe sie in ihrem Glauben und mit Gebeten getankt. «Wenn ich nicht mehr wusste, was denken, habe ich gebetet. Unser Vater etwa und auch das Gebet von Bruder Klaus.» Wenn negative Gedanken sie heimgesucht hätten, habe sie dies auch körperlich gespürt. Nach dem Beten hat die Bergsteigerin die Schmerzen als weniger stark empfunden.
Zur Person: Evelyne Binsack
Evelyne Binsack wurde 1967 geboren. Nach einer Lehre als Sportartikelverkäuferin hatte sie diverse Nebenjobs und erlangte auch die Berufslizenz als Helikopterpilotin. 2001 stand sie als erste Schweizerin auf dem Gipfel des Mount Everest. Später erreichte sie aus eigener Muskelkraft den südlichsten Punkt der Erde (Südpol) und auch den nördlichsten Punkt, den Nordpol. Und das bei Temperaturen bis zu minus 40 Grad. Es folgten Ausbildungen als Dokumentarfilmerin und Mentalcoach. 2019 bekam sie eine eigene Barbiepuppe. Dies im Rahmen des 60-jährigen Jubiläums von Barbie. Denn dazu wurden Frauen mit Vorbildfunktion gesucht. Heute arbeitet sie als Bergführerin, Coach, Mentaltrainerin und Referentin.
Die Frage nach dem eigenen Daheim
Etwas schwierig ist für beide die Frage, wo sie sich zu Hause fühlen. Andreas Neugebauer hat nach dem Weggang aus dem Elternhaus «nie ein richtiges Heimkommen erlebt.» Heute weiss er: «Mein Zuhause ist dort, wo meine Familie ist, meine Freunde sind und meine Sehnsucht ist.» Evelyne Binsack fühlte eine Leere, als die Mutter starb. «Wo wendest du dich hin, wo ist dein Zufluchtsort?», fragte sie sich.
Heute fühlt sie sich in ihrem Daheim im Berner Oberland zu Hause. Und wenn sie sich doch einmal nicht zu Hause fühle, gehe sie raus in die Natur. «Da spüre ich dann die Zugehörigkeit wieder», erzählt sie. Die Bergführerin ist überzeugt: «Jeder Mensch trägt seinen eigenen Mount Everest mit Höhen und Tiefen. Das Leben fordert viel, ist sauanstrengend, aber wunderschön.» Sie wünscht allen, «dass wir das gut meistern, offen bleiben, kämpfen, aber auch die Musse haben, zurückzulehnen, zu geniessen und dankbar zu sein.»
«Wenn ich nicht mehr wusste, was denken, habe ich gebetet.»
Evelyne Binsack hat in ihrem Leben viele Extremsituationen erlebt.
Die andere Ansicht
Andreas Neugebauer betont: «Wenn du nicht verzeihen kannst, nicht zu deiner Geschichte stehen kannst, wird es schwierig.» Dass er verziehen hat, sowohl seiner Mutter, als auch der Pflegefamilie, in der er schwierige Jahre erlebte, zeigt sich gegen Ende des Gesprächs, als die Zuhörer(innen) Fragen stellen können. Ein Angehöriger der Pflegefamilie ist vor Ort und äussert sich kritisch gegenüber den Erzählungen von Andreas Neugebauer. Dieser hört sich die Meinung ruhig an und lädt dann den Mann zu einem persönlichen Gespräch beim Kaffee ein.
Nicole Reusser erklärt zum Schluss an Neugebauer gewandt: «Du hast uns berührt und gelehrt, zu verzeihen.» Beim Gesang des Männerchors Leimiswil, der den Abend musikalisch umrahmt, kann das Publikum das Gehörte etwas sacken lassen. Treffend ist die Liedauswahl mit den Zeilen des Sängers Kunz: «Schritt für Schritt der Bärg doruuf. Tritt für Tritt loh keine us, und chunt e Stei, stohni druf und schrei (Hey! Hey!). Ich gibe sicher nid uf.» Und aufgegeben haben weder Evelyne Binsack noch Andreas Neugebauer.
Ein schwieriges Thema: Verdingkinder in der Schweiz
«Bis 1981 waren in der Schweiz hunderttausende Kinder und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen.» Das heisst es auf der Website des Bundesamts für Justiz (BJ). Und weiter: «Verdingkinder wurden auf Bauernhöfen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, haben massive körperliche und / oder psychische Gewalt erlebt und wurden oft auch sexuell missbraucht.»
Mit den Entschuldigungen der ehemaligen Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf und Simonetta Sommaruga sei ein Prozess in Gang gekommen, in dem dieses schwierige Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte aufgearbeitet werde. Zentral seien die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts. Betroffene haben Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag. «Dieser soll ein Zeichen der staatlichen Anerkennung des erlittenen Unrechts sein», heisst es weiter. Er umfasst eine einmalige Zahlung von 25 000 Franken. Um diesen zu erhalten, muss beim BJ ein Gesuch eingereicht werden. Zur Erleichterung der Gesuchstellung stehen das Gesuchsformular und die Wegleitung beim Bundesamt für Justiz zur Verfügung. Die kantonalen Anlaufstellen und Staatsarchive beraten und unterstützen Betroffene auf Wunsch unkompliziert und kostenlos beim Ausfüllen des Gesuchs oder bei der Suche nach möglichen Akten.
Weitere Informationen finden Sie hier: www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/fszm.html
Berner Museum mit Ausstellung zum Thema
Bis im Januar 2026 ist im Bernischen Historischen Museum in Bern die Ausstellung «Vom Glück vergessen – Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Bern und der Schweiz» zu sehen. Die von der Historikerin Tanja Rietmann kuratierte Ausstellung stelle fünf Betroffene ins Zentrum, heisst es auf der Website. Die Szenografin Karin Bucher hat für die Ausstellung begehbare Raumbilder gänzlich aus Karton geschaffen, welche die Besucher(innen) einladen, in die Geschichten dieser Menschen einzutauchen. Hörspiele und Archivdokumente erzählen die Schicksale. Und es wird gefragt: Wie betrifft uns das Geschehene heute?
Weitere Informationen: www.bhm.ch/de