Alpauffahrten sind nicht nur ein Augenschmaus, sondern auch ein Paradies für Geniesser: Beim Alpaufzug der Familie Johann und Anita von Grünigen aus Turbach war dies nicht anders: Auf fast 1800 m ü. M. hoch über dem Turbachtal, verbringen von Grünigens mit ihren Tieren den Alpsommer. Schon seit 1993 gehen Anita und Johann zusammen z Bärg auf ihre Alp «Oberi Mättle». Vorher waren es seine Eltern, die nächste Generation ist auch schon parat. Für ihn ist es mehr als eine Tradition. «Mi häs im Blut, äs ghört zu üs», sagt er im breiten Oberländer Dialekt. Oben auf der Alp wird nicht gekäst, nur Mutschlis für den Eigenverbrauch werden die ersten Tage hergestellt. Die Milch wird dann jeden zweiten Tag ins Tal gebracht.
Früh aus den Federn
Am Samstag, 14. Juni, war es also wieder so weit: Über vier Stunden dauerte der Fussmarsch, der oberhalb von Saanen, wo von Grünigens mit ihren Tieren in der Vorweide sind, losging. Der Weg führt über Schönried, Saanenmöser, hinauf zum Hornberg und dann weiter bis zu ihrer Alp «Oberi Mättle». Wer mit der Familie von Grünigen und den Kühen auf die Alp ziehen will, muss früh aus den Federn, um zwei Uhr am Morgen ist Tagwache. Die Tiere merken es sofort, dass es heute z Bärg geht. Seit fünf Wochen sind sie in der Vorweide, nun werden sie mitten in der Nacht in den Stall gebracht. Die Melkarbeit ist schnell gemacht, auch der letzte Schliff darf nicht fehlen – schliesslich will man mit sauberen Kühen z Bärg.
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Das Treichelgeläut ist parat, jede Kuh hat eine um den Hals. Kurz nach vier Uhr setzt sich der Zügeltross in Bewegung, die Treichelkühe vorneweg, später kommen die Rinder noch dazu. Noch ist es dunkel, doch die Kühe kennen den Weg. Die Leitkuh gibt das Tempo vor – das Treichelgeläut geht unter die Haut. Jetzt biegt der Zügeltross in die Hauptstrasse ein. Mit zügigen Schritten geht es Richtung Schönried. Die ersten Einheimischen und Touristen öffnen ihre Fenster, stehen im Nachthemd auf dem Balkon: Hier wird ein Handy gezückt, dort ein Fotoapparat hervorgeholt. Viele Bilder werden gemacht, Bilder, die ausserhalb der Schweiz für viel Furore und für viel Werbung sorgen werden.
Die Leitkuh Keila
Die Familie von Grünigen scheint das nicht zu stören, gemütlich ziehen sie mit ihrer Herde weiter. Um die dreissig Stück zählt dieses Jahr der Alpaufzug, vorneweg der Zweispänner mit dem Wagen. Gemütlich laufen die Kühe in ihrem Tempo Richtung Saanenmöser, die Autos bleiben stehen. Nein, die Holländer, Belgier oder die Deutschen – so was haben sie wahrscheinlich noch nie gesehen. «Wunderschön, einfach wunderschön», sagen sie. Tatsächlich geht der Alpaufzug unter die Haut, nichts kann man dagegen tun. Ein Brauch, der nicht verloren gehen darf, ein Brauch, der noch Hunderte von Jahren weiterleben soll.
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Nun sind die Kühe und Helfer in Saanenmöser angekommen. In der Zwischenzeit ist es hell geworden. Mitten im Dorf biegt die Herde ab, jetzt geht es weiter über den Bahnübergang, dann geht es steil bergauf Richtung Hornberg zu. Die Kühe legen das Tempo vor, von einer Pause keine Spur. Zügig schreiten sie voran, über eine Stunde dauert es, bis man oben auf der Passhöhe beim Berghotel Hornberg angekommen ist. Die Leitkuh Keila mit ihren neun Jahren kennt den Weg, viele Male ist sie im Frühling schon mitgelaufen, schwungvoll schwingt sie ihre Treichel, stolz streitet sie voran. «Scho iri Muetter isch gäng zvorderscht glofe, Leitkuh si ligt halt ir Familie», meint der Reinzüchter lachend. Jetzt wird der Weg eben, es geht der Bergflanke entlang. Das letzte Stück ist für Tier und Mensch ein Genuss. «Chum, chum, chum», ruft die Sennerin. Die Alphütte kann man jetzt schon sehen, es ist nicht mehr weit. Die Uhr zeigt schon gegen neun Uhr, es ist bald geschafft. «Wenn äs z Bärg geit si mi Frau Anita u i mit Härzbluet derbi, äs isch ifach s Schönschte, was äs git», meint der Landwirt. Es sei fast das Schönste vom ganzen Jahr, wenn nicht vom ganzen Leben, wenn man auf die Alp gehen kann und im Herbst blumengeschmückt wieder talwärts zieht.
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Drei Monate auf der Alp
Eine Kuh nach der anderen trifft bei der Alphütte ein. Geduldig warten sie, bis man ihre Treichel löst. Jetzt geht es auf die Weide, das frische Berggras ruft. Auf der Alp sind die Kühe nachts draussen. Hier oben hat man ein Bergpanorama, das weit über das Saanenland reicht. «Wir fühlen uns hier oben wie zu Hause», sagt das Älplerehepaar. Da gehört es sich, dass man hier oben die Nacht verbringt, obwohl man fast jeden Tag auf dem Talbetrieb hinunterfährt. Rund drei Monate bleiben von Grünigens hier oben auf dem Berg. Dann heisst es am 6. September, wenn die Gstaad-Züglete stattfindet, wieder talwärts ziehen. «An der Gstaad-Züglete sind wir einer von vielen Betrieben, die mit ihren Tieren teilnehmen, da sind wir gerne auch dieses Jahr wieder dabei», freut sich der Landwirt.
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