Ein kleiner Bagger links, Baumaterial rechts. Dazwischen ein wackliger Bretterweg, den Hansjörg Häberli auch mit 82 Jahren problemlos meistert. Erst im Juli ist er mit seiner Frau in eine neu erstellte Wohnung in Neukirch TG gezogen. An den umliegenden Mehrfamilienhäusern wird noch gebaut.

«Ich habe vor 20 Jahren nochmals geheiratet», erzählt er wenig später in der hellen, offenen Wohnküche bei einer Tasse Kaffee: Susanne, wie er geschieden, berufstätige Mutter von vier damals noch schulpflichtigen Kindern. Hansjörg Häberli stand zu der Zeit kurz vor der Pensionierung. «Der Wechsel in die Pension war hart», erinnert er sich. «An einem Tag im Geschäft noch Kontakte zu Leuten auf der ganzen Welt, dann nichts mehr.»

Als Hausmann abschalten

Er wurde Hausmann: Bekochte die Familie, half bei den Hausaufgaben, kümmerte sich um den Garten. «So hatte ich eine Aufgabe und konnte abschalten.» Und er begann zu schreiben. «Das war wie eine Therapie.»

Er blieb beim Schreiben, bis heute. Im Frühling veröffentlichte er ein Buch: «Erdbeerrot und die anderen Farben des Lebens», so der Titel, «eine autobiografische Erzählung». Denn Erdbeeren haben sein Berufsleben bestimmt. Es gab sogar eine Zeit, da stellte ihm die Post Briefe zu, selbst wenn die Adresse nur «Erdbeerkönig Thurgau» lautete, wie es auf seiner Website heisst.

Als Bauernsohn aufgewachsen

Hansjörg Häberli kam 1941 als Bauernsohn in Neukirch zur Welt, er war das zweitälteste von fünf Geschwistern. Schon früh war klar, dass er einmal den Hof übernehmen sollte. «Aber eine Bauernlehre wie heute gab es damals noch nicht», erzählt er. Er machte Berufspraktika auf Betrieben im Welschland und im Zürcher Weinland und besuchte Kurse auf dem Arenenberg.

Dabei entdeckte er sein Interesse für Pflanzenbau und hätte gerne studiert. «Ich wollte Agronom werden – oder Pfarrer». Beides ging nicht. Es fehlte das Geld und es war für seine Eltern undenkbar, er würde nicht Hofnachfolger. Also rang er dem Vater das Versprechen ab, den Betrieb schon mit 22 Jahren übernehmen zu dürfen, er wollte eigene Ideen verwirklichen. «Um es anders als alle anderen zu machen, muss man jung sein.»

Neue Kultur

Nach der Hofübernahme suchte er nach neuen Kulturen, die bei den Konsumenten gefragt waren – und entdeckte die damals noch wenig verbreiteten Erdbeeren für sich. Auch andere Bauern in der Region setzten auf die kleinen roten Früchte und 1966 war Hansjörg Häberli Gründungspräsident der Vereinigung Thurgauischer Beeren-Pflanzer.

«Schwierig für uns war es allerdings, rechtzeitig genügend Setzlinge aufzutreiben», erinnert sich der Vater von drei Söhnen. «Denn die mussten spätestens am 10. August in den Boden. Wir suchten daher neue Produktionswege.» Er begann, selbst Setzlinge anzubauen. Mit zahlreichen Studienreisen und an Vorträgen und in Fachgesprächen bildete sich der Beerenpflanzer laufend weiter. «Ich haderte manchmal damit, keinen akademischen Titel zu haben. Doch ich habe mir mein Fachwissen auf der ganzen Welt selbst angeeignet.»

Erdbeeren boomten

Der Thurgauer Erdbeeren-Anbau entwickelte sich ab Mitte der 1960er-Jahre rasant. «Unsere Beeren waren besser als die aus dem Wallis, da wir auf einjährige Kulturen setzten, die kaum gespritzt werden mussten. So konnten wir auch schneller die Sorten wechseln.»

Es war auch Hansjörg Häberli, der Anfang der 1970er-Jahre eine neue Vermarktungsform aus den USA in die Schweiz brachte: «Pick your own»-Felder, Selbstpflücker-Felder. Als er 1972 die erste Selbstpflücker-Plantage eröffnete, wurde das «Beeriland» fast überrannt. Schon am Mittag des ersten Tages musste er auf den Telefonbeantworter sprechen: «Leider sind alle reifen Beeren gepflückt. Das Beeriland öffnet übermorgen wieder.»

1982 wandelte Hansjörg Häberli seine Einzelfirma in eine AG um. Das Geschäft mit den Erdbeersetzlingen boomte. In jenen Jahren kam der Gewinn der Firma zu fast zwei Dritteln aus dem Verkauf der Setzlinge. Doch das wachsende Angebot der Konkurrenz drückte auf die Preise. Dazu kam, dass die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl der Selbstpflücker-Plantage 1986 den Todesstoss versetzte.

«Ich machte mir grosse Sorgen», schreibt Hansjörg Häberli über diese Zeit in seinem Buch. «Aufhören kann ich nicht. Wie könnte ich dann die Kredite zurückzahlen? Was mache ich mit den Mitarbeitern? Aufgeben wäre gegen meine Natur.»

Viel Arbeit und Druck

Hansjörg Häberli begann, zusätzlich Himbeersetzlinge sowie andere Obstarten zu produzieren. Er investierte in eine Erdbeer-Produktions-Anlage in Ungarn, belieferte mit seinen Setzlingen praktisch den ganzen deutschsprachigen Raum Europas. Daneben war er politisch aktiv, seit 1976 sass er für die SVP im Thurgauer Kantonsrat.

Der Druck stieg: die viele Arbeit in der Firma, das ehrenamtliche Engagement in verschiedenen landwirtschaftlichen Gremien und dann noch die Politik. Dazu kamen die finanziellen Verpflichtungen. Neben den laufenden Betriebskosten investierte er etwa in eine damals neue Warmwasseranlage gegen Erdbeermilben: Darin werden die Setzlinge bei 46,3 Grad gebadet. Die Milbe stirbt, die Pflanze überlebt.

Es zogen dunkle Wolken am Erdbeerhimmel auf. Eine Bakterienerkrankung setzte Anfang der 1990er-Jahre dem Handel mit den Erdbeersetzlingen zu. Der Betrieb in Ungarn erforderte grosse Investitionen. Auf der AG lasteten mehr Schulden, als die Firma stemmen konnte. Der Firmenchef selbst war durch die chronische Überlastung psychisch angeschlagen, seine Ehe kriselte. Dazu kam, dass die Banken Kreditanfragen deutlich strenger prüften, er bekam kein Geld mehr.

Tiefer Fall

Schliesslich musste Hansjörg Häberli Ende Dezember 1996 den rund hundert Mitarbeitern auf Ende Januar kündigen. Der Patron überbrachte ihnen die Hiobsbotschaft mit stockender Stimme an der Betriebsweihnachtsfeier persönlich und ergänzte: «Wenn das Gesuch um Nachlassstundung bewilligt wird, kann ich einen Teil von Ihnen wieder einstellen.»

Die Nachlassstundung wurde schliesslich gewährt und Hansjörg Häberli kämpfte weiter. Doch er musste akzeptieren, dass seine Psyche nicht mehr konnte. Mit der Diagnose Depression zog er sich für sechs Wochen in eine auf Psychosomatik spezialisierte Klinik zurück. Im Buch schreibt er zu seiner damaligen Situation: «Ich habe alles Materielle verloren, ich habe Schulden, die ich mein ganzes Leben nicht zurückzahlen kann. Ich weiss nicht, wie es beruflich weitergeht, momentan bin ich arbeitsunfähig. Ich bin ganz tief gefallen, liege weit unten in einem tiefen dunkeln Loch.»

Die Firma Häberli wurde nach nervenzehrendem Hin und Her verkauft. Hansjörg Häberli musste aus dem geliebten Elternhaus ausziehen, den Garten mit dem Nussbaum verlassen, den noch sein Vater gepflanzt hatte. Er zog in eine Wohnung und arbeitete für die neuen Firmenbesitzer bis zu seiner Pensionierung als Leiter Entwicklung.

Ein Neuanfang

Seine langjährige Ehe wurde offiziell geschieden. Ende 1998 war er schuldenfrei. «Von unzähligen Lasten konnte ich mich befreien», schreibt er dazu. «Zwar hat sich mein in Jahrzehnten erarbeitetes beträchtliches Vermögen im Nullkommanichts aufgelöst. Finanziell stehe ich da, wo ich vor vierzig Jahren gestanden bin. Und trotzdem, ich fühle mich gut.»

Die «Häberli Fruchtpflanzen AG» gibt es noch heute. «Ich habe ein gutes Verhältnis zu den heutigen Besitzern», sagt der Firmengründer am Kaffeetisch. «Der Betrieb wird wieder kompetent und mit Freude geführt.»

Auf sein Buch bekam er bereits viele Reaktionen. «Es sei spannend und könne Mut machen, schrieben mir Leser. Gelesen haben es bis jetzt vor allem Leute, die mich kannten – oder solche, die Ähnliches erlebt haben.»

Sich neu ausrichten

«Ich habe damals viel riskiert», fasst er die Hochs und Tiefsder Vergangenheit zusammen. «Doch ich habe mit meinem früheren Leben Frieden geschlossen.» Dazu musste er nach der Pensionierung die meisten seiner bisherigen Denk- und Verhaltensweisen aufgeben und sich neue Gewohnheiten aneignen.

In seinem heutigen Leben hat er Zeit für Wanderungen und den Chor im Dorf. Und er hat Zeit für die Familie. Heute komme noch die 6-jährige Enkeltochter Jaël zum Mittagessen, erzählt er. Eigentlich wollte er mit ihr Kutteln kochen. «Aber die mag sie nicht. Jetzt gibt es eben eine Gemüselasagne.» Wie das Schreiben hat das Kochen einen festen Platz in seinem Leben bekommen. Auch dafür nahm er sich früher keine Zeit. «Inzwischen finde ich, es hat etwas Meditatives.»

Buchtipp:
Hansjörg Häberli

Erdbeerrot und die anderen Farben des Lebens

Bezug über die Website des Autors oder den Buchhandel.
Weitere Informationen: www.hansjoerghaeberli.ch