Wenn in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer mehr Fleisch auf den Teller kam und in der Küche an Butter und Rahm nicht gespart wurde, hatte das auch mit den Folgen des Krieges zu tun. Während der Kriegsjahre waren in der Schweiz Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Butter, Zucker, Mehl und Öl streng rationiert. An zwei Tagen in der Woche sollte gar nur vegetarisch gegessen werden.
Erst in den 50er-Jahren liess man es sich im Zuge des einsetzenden Wirtschaftswunders so richtig gut gehen: Anstatt Kutteln und Suppen mit Gnagi kamen nun Filet und Entrecôte auf den Tisch – Edelstücke, von denen die meisten Schweizer während der Kriegsjahre nur träumen konnten. Es habe eine Art psychologischen Nachholbedarf gegeben, sagt Dominik Flammer von der Zürcher Agentur Public History Food. Die Mangelerfahrung sei mit dem Kriegsende in Europa noch lange nicht zu Ende gewesen. Die Nachbarländer lagen in Trümmern, das Ernährungssystem musste erst wieder aufgebaut werden. Erst rund drei Jahre später, 1948, hatte sich die Versorgungslage so weit gebessert, dass Butter, Rahm, Öl, Kaffee und Zucker wieder frei verfügbar waren.
Darben mussten die Arbeiter
Zumindest für jene, die sich an das strenge Regime gehalten hatten. Das waren längst nicht alle. «Beim wohlhabenden Bürgertum gab es nie Mangel an Fleisch, Butter und Eiern», weiss Flammer. Möglich machte dies ein umfangreicher Schwarzhandel. Gutbetuchte Haushalte in den Städten deckten sich in den umliegenden ländlichen Gebieten direkt bei den Bauern ein. Allein für den wohlhabenden Zürichberg seien Tausende solcher Fälle nachgewiesen, sagt Flammer.
Den Gürtel sprichwörtlich enger schnallen mussten vor allem die Arbeiterfamilien in den Städten. Für sie brach die Zeit der Margarine und des Rapsöls an. Für manche Bauernfamilie sei der Mangel in den Kriegsjahren in der Ernährung kaum spürbar gewesen, sagt Dominik Flammer. Dank Knechten und Mägden wurde weiterproduziert, auch wenn der Landwirt selbst im Aktivdienst war. Vor allem habe es im Gegensatz zu den umliegenden Ländern immer genügend Obst und Gemüse gegeben. «Die Schweiz war das einzige Land in Europa, in dem Kartoffeln, Gemüse und Obst nicht rationiert werden mussten», erklärt Dominik Flammer.
Die grösste Umstellung für die Landwirtschaft fand nicht auf dem Speisezettel, sondern auf dem Feld und im Stall statt. Im Rahmen der von Friedrich Traugott Wahlen geplanten Anbauschlacht mussten sie mehr pflanzliche Nahrungsmittel für den menschlichen Verzehr herstellen – was zu einer Steigerung des Selbstversorgungsgrads auf zuletzt über 70 Prozent führte. Auch die Milchwirtschaft wollte Wahlen umgestalten: Anstelle des traditionellen, aus Rohmilch hergestellten Vollfettkäses sollte industriell hergestellter Magermilchkäse treten – dies, um möglichst viel Milch abrahmen und so den Bedarf an Butter decken zu können. Es war eine Neuerung, die sich nach dem Krieg nicht durchsetzen konnte. «Die Produktion kehrte sehr bald wieder zum Vollfettkäse für den Export zurück.»
Nüsse statt Kakao
Einen regelrechten Schub erhielt dagegen die Schokoladenindustrie. Zwar konnte diese nach wie vor auf Lieferungen aus Westafrika zurückgreifen, wo Basler Missionare in den damaligen britischen Kronkolonien den Kakaoanbau eingeführt hatten. Der Rohstoff war aber teuer, sodass es lohnend wurde, die Schokolade zu strecken – zum Beispiel mit Nüssen, die aus der Türkei bezogen werden konnten. Eine Erfindung jener Zeit konnte sich bis heute halten: das Ragusa-Stängeli von Camille Bloch. «Der Mangel machte erfinderisch», sagt dazu Dominik Flammer. Bereits die Schweizer Milchschokolade selbst sei ursprünglich eine Möglichkeit gewesen, Schokolade mit weniger Kakaoanteil herzustellen. Viele Produzenten seien im 19. Jahrhundert nur deswegen in die Schweiz gekommen, weil der Rohstoff Milch hier schon damals in grosser Menge erhältlich war.
Flammer zieht Parallelen zum Dreissigjährigen Krieg, der Mitteleuropa in den Jahren von 1618 bis 1648 verwüstet hatte, von dem die damalige Eidgenossenschaft aber weitgehend verschont blieb. In diesen Jahren sei die Grundlage für die Produktion und den Export von Labhartkäse entstanden – dieser diente in der Folge lange Zeit als Proviant für die europäischen Armeen. Schweizer Söldner machten den nahrhaften und haltbaren Proviant auch im Ausland beliebt.
Schokolade als «Frauenzeug»
Auch beim Siegeszug der Schweizer Schokolade hatte die Armee eine Rolle gespielt. «Vor dem Ersten Weltkrieg war Schokolade etwas für Frauen und Kinder», sagt Flammer. Dies sei gut ersichtlich an der damaligen Werbung. Nachdem die Militärs Schokolade als leicht transportierbare und energiereiche Notration für die Truppen entdeckt hatten, hielt die Schokolade Einzug in das Soldatenleben – eine Gewohnheit, die die jungen Männer in ihren Alltag mitnahmen.
Andere Besonderheiten der Kriegs- und Nachkriegsküche sind dagegen in Vergessenheit geraten. «Damals wurden viele Suppen und Eintöpfe gekocht», weiss Flammer. Das habe auch an der in der Schweiz relativ guten Verfügbarkeit von Gemüse gelegen. «Im Krieg wurden die Gemüsegärten deutlich grösser.» Aus dem Militär kam der «Spatz», bei dem je nach Lage mehr oder weniger Fleisch mitgekocht wurde – manchmal auch nur ein Knochen. Eine grosse Rolle spielten laut Flammer auch die Hülsenfrüchte, die wieder im Trend liegen. «In der Schweiz wurden viele Bohnensuppen gekocht», sagt Flammer. Nach dem Krieg seien diese aber vielerorts ebenso in Vergessenheit geraten wie das «Gnagi» als Einlage.
Hörnli und Ghackets Bolognese
Als «Seelennahrung» erhalten hat sich «Hörnli und Ghackets» und die Kombinationen von Teigwaren und Apfelmus. Obst war in der Kriegs- und Nachkriegszeit eine wichtige Nahrungsquelle, das die Schweizer Bauern dank der weitverbreiteten Obstbaumkulturen zur Genüge liefern konnten – trotz jahrelanger Kampagnen der eidgenössischen Alkoholverwaltung, die mit Fällaktionen die Schwarzbrennerei austrocknen wollte.
Über Umwege erreichten diese Kombinationen schliesslich auch die italienische Küche, die nach dem Krieg in der Schweiz populär wurde: «Viele Italiener assen ihre ersten Spaghetti Bolognese in der Schweiz», sagt Flammer. «Und sie finden es typisch schweizerisch.»