Das Ausmass der Zerstörung, welches sich nach den heftigen Unwettern vom vergangenen Wochenende im Tessin und im Wallis zeigte, ist erschreckend. Wie massiv Naturgewalten sein können, erlebten auch die Familien im Gebiet Hinterbergen ob Vitznau. Anfang Juni löste sich 300 m oberhalb des Betriebes Oberberg ein Murgang. Infolge der gewaltigen Fliessrutschung kamen auf 400 m Länge und 100 m Breite rund 400 000 m3 Material in Bewegung.

Am 1. Juni kam der Murgang

«Seit einem Monat funktionieren wir einfach nur noch», erklärt Josef Küttel-Odermatt vom Heimet Oberberg. Der Anblick der enormen Rutschung erschüttert den Bergbauern immer noch. «Nachdem es am Vortag intensiv geregnet hatte, bemerkte mein Sohn am Morgen des 1. Juni, dass kein Wasser mehr durch die Milchpipeline vom Alpbetrieb her kam.» Bei der Ursachensuche sah Josef Küttel junior dann, dass sich auf rund 1300 m ü. M. ein gewaltiger Murgang löste und Richtung Tal bewegte. Bereits kurz nach dem Mittag dieses Samstags war die Rutschung oberhalb des Hauses angelangt. Die Lage beruhigte sich wieder und auch die Geologen waren zu diesem Zeitpunkt noch optimistisch.

Güllesilo schützte das Haus

In der Nacht von Montag auf Dienstag kamen die Erdmassen dann wieder in Bewegung. Das 350 m3 fassende Güllesilo aus Stahl, welches nur 10 m oberhalb des Hauses stand, wurde vom Geröll zerdrückt. Die Gülle lief glücklicherweise Richtung Tobel und nicht zum Haus. Das Güllesilo mit dem massiven Betonfundament leistete den Erdmassen lange Widerstand, nur dadurch wurde das Wohnhaus verschont. «Dass unser Haus noch steht, ist einer höheren Macht zu verdanken», so der Bergbauer.

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Dass das Haus nicht beschädigt wurde, gibt der Familie etwas Hoffnung für die Zukunft. «Ich glaube nicht, dass wir ohne Wohnhaus genügend Kraft hätten, die kommenden Monate zu bewältigen», so der Seniorbauer weiter. Trotz der aussergewöhnlichen Situation muss der 21 Hektar grosse Betrieb weiterlaufen. Die Zufahrt ist zerstört, was viele Arbeiten erschwert. Da die Remise vom Hangrutsch mitgenommen wurde, fehlt viel Kleinmaterial. Infolge des häufigen Regens sei auch die Heuernte dieses Jahr sehr arbeitsintensiv. Dazu komme die umständliche Wohnsituation. Im eigenen Wohnhaus kann die Familie Küttel bisher aus Sicherheitsgründen noch nicht übernachten. Während sich Josef und seine Frau Marietta Küttel im Stall ein Provisorium eingerichtet haben, lebt das Betriebsleiterpaar Dorli und Josef Küttel junior mit den drei Kindern in einem Ferienhaus in Vitznau. Vor sieben Jahren haben sie den Hof übernommen und mit viel Herzblut weitergeführt. Die enormen Schäden und die grosse Ungewissheit belasten die Bergbauernfamilie stark. Täglich kommen Küttels mit der Luftseilbahn auf den Betrieb. Auch die Kinder sind in der schulfreien Zeit oben.

Neben der Bahn ist das Gebiet Hinterbergen über die Zufahrtsstrasse von Gersau her erschlossen. Fast dreissig Jahre lang kämpfte Josef Küttel senior als Präsident des Erschliessungsprojekts Hinterbergen, bis die Strasse 2005 eröffnet werden konnte. «Wir konnten bei der Realisierung ohne langwierige Verhandlungen mit Verbänden und Ämtern kaum einen Stein entfernen. Hätten wir nicht so viel Ausdauer gehabt, würde heute noch keine Strasse bestehen. Und ohne diese Strasse wäre es nicht möglich gewesen, die bis 45 Tonnen schweren Bagger ins Rutschgebiet zu transportieren», betont Josef Küttel. Ohne schweres Gerät wären viele Sofortmassnahmen nicht machbar gewesen, was die Gefahr für ein grösseres Ereignis noch erhöht hätte.

Unterstützung erwünscht

Die Stimmung bei der Familie ist bedrückt. «Früher floss im Tobel ein schönes Bächlein, heute sieht man nur noch eine Schlammlawine», kommentiert Bäuerin Marietta Küttel ihre Aussicht aus dem Fenster. Trotz der guten Zusammenarbeit mit der Gemeinde fällt es der Familie schwer, positiv in die Zukunft zu blicken. Noch ist offen, ob und wie viel Vieh über den nächsten Winter gehalten werden kann, denn die Güllegrube wird dieses Jahr noch nicht realisiert werden können. «Ich war lange Gemeinderat und bin damit den Umgang mit Behörden gewohnt. Dennoch würde ich mir wünschen, dass wir im administrativen Bereich Unterstützung erhalten würden», so Josef Küttel senior. Beim Solidaritätsfonds Luzerner Bergbevölkerung wurde ein Spendenkonto eingerichtet.

Bergrestaurant Hinterbergen auch betroffen
Zum zwölf Hektar grossen Hof Eselberg, einem weiteren vom Bergrutsch stark betroffenen Betrieb, gehört auch das Bergrestaurant Hinterbergen. «Sowohl die Luftseilbahn Vitznau-Hinterbergen als auch mehrere Wanderwege und unser Bergrestaurant sind infolge des Naturereignisses aktuell geschlossen», erklärt Marcel Küttel. Er und seine Frau haben Hof und Gastrobetrieb vor zwei Jahren an ihren Sohn Alex Küttel und dessen Frau Sonja übergeben. «Wir freuten uns, dass die junge Familie den Hof weiterführt, entsprechend schmerzhaft ist es jetzt, zu sehen, wie hart die junge Generation durch den Murgang getroffen wurde.» Das Ereignis habe einmal mehr gezeigt, wie stark die Berglandwirtschaft Naturgefahren ausgeliefert sei. Die Stimmung sei durch diesen schweren Schicksalsschlag sehr gedrückt und auch die wirtschaftlichen Auswirkungen enorm, da die Versicherungen die Ertragsausfälle nicht decken würden. Beide Generationen würden aktuell im Dorf übernachten. Es gäbe aber auch Lichtblicke in dieser schwierigen Zeit. «Die Solidarität aus der Bevölkerung ist gross. So erhielten wir viel Zuspruch und teils sogar spontane finanzielle Unterstützung», so Marcel Küttel, der als Akkordeonist bei der bekannten Formation Echo vom Vitznauerstock spielt.

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Grossrutschung Hinterbergen/Gassrübi in Vitznau LU
Anfang Juni kam es oberhalb von Vitznau LU zu einem grossen Hangrutsch. Ausgelöst wurde das Ereignis von einer speziellen Wetterlage, durch die es lange und viel regnete. Mehrere Bauernhöfe im Gebiet mussten evakuiert werden. Erst gingen die Verantwortlichen davon aus, dass sich die Lage schnell beruhigt, doch das Hang­rutschgebiet ist bis heute instabil. Das Gebiet Gassrübi wird rund um die Uhr von Sicherheitspersonal überwacht, denn nicht nur die Höfe im Gebiet Hinterbergen wurden hart getroffen. Auch für das Dorf Vitznau besteht durch die Gefahr eines gros­sen Murgangs bis in das Dorf ein grosses Risiko. Bereits im Jahr 1674 zerstörten Murgänge aus dem Gebiet Gassrübi den alten Dorfteil von Vitznau. Kurz nach den ersten Rutschungen wurden Sofortmassnahmen getätigt. «Das Unternehmen Josef Küttel AG aus Vitznau leistete in den vergangenen Wochen enorm viel. Die Maschinenführer arbeitete teils fast rund um die Uhr, um die dringendsten Massnahmen realisieren zu können», betont Landwirt Josef Küttel-Odermatt. Der Murgang wurde an kritischen Stellen ausgebaggert, ein Gerinne und Leitdämme angelegt und die Wasserzuflüsse in die Rutschung seitlich abgeleitet. Aktuell wird nun mit grossem Gefährt begonnen, das Rutschmaterial zu separieren. Damit soll Stein- und Kiesmaterial für den geplanten Schutzdamm gewonnen werden. Zudem wurden in den vergangenen Wochen im ganzen Rutschgebiet mehrere Hundert Kubik geholzt, damit bei weiteren möglichen Ereignissen weniger Fallholz anfällt.