An der Wand in der Küche der Familie Kipfer hängt ein Bild mit der Aufschrift: «Es ist das Ende der Welt, sagte die Raupe. Es ist erst der Anfang, sagte der Schmetterling». Barbara Kipfer mag den Spruch. Die Bäuerin ist Mutter und Lehrmeisterin. Seit bald zehn Jahren bilden ihr Mann Martin und sie Lehrlinge auf dem vielseitigen Betrieb in Amsoldingen aus. Die Auszubildenden profitieren von Kipfers Lebenserfahrung. Und nicht selten sei es eben so, dass es verschiedene Ansichten einer Sache gebe, erklärt Barbara Kipfer. So, wie es der Spruch der Raupe und des Schmetterlings ganz deutlich zeigt.
Teil der Familie
Die BauernZeitung hat Barbara Kipfer besucht, um mit ihr über Lehrlinge und Lehrverhältnisse zu sprechen. Nicht in erster Linie aus fachlicher, sondern aus menschlicher Sicht. Denn eine Tatsache unterscheidet die landwirtschaftliche Lehre ganz eindeutig von den meisten anderen Ausbildungen. Der Lehrling verbringt im Normalfall 24 Stunden auf dem Lehrbetrieb und nicht nur die vorgeschriebene Arbeitszeit. Das hat zur Folge, dass auch das Privatleben auf den Höfen der Betriebsleiterfamilien stattfindet. Vor- oder Nachteil? «Sie werden zu einem Teil der Familie, das muss man sich bewusst sein», sagt Barbara Kipfer. Und da komme ein junger Mensch daher mit anderen Prägungen, anderen Gewohnheiten und unterschiedlichen Ansichten. «Wir hatten bisher das grosse Glück, dass es immer gut gepasst hat», sagt die Bäuerin. Wichtig ist in ihren Augen das Schnuppern, das ein Kennenlernen überhaupt möglich mache. Danach verlangen Kipfers, dass die Lehrlinge auch andere Betriebe anschauen und besuchen, allenfalls schnuppern gehen, um Vergleiche zu ziehen. Eine Zusage direkt nach dem Schnuppern ist für Kipfers nicht der richtige Weg. «Es ist auch gut, wenn alle noch einmal darüber schlafen und sich in ihren Familien unterhalten», erklärt Barbara Kipfer.
Die Seite der Eltern
Die Familie hat zwei Kinder, Melina und Jonas. Während Melina noch von zu Hause aus ihrer Arbeit und Weiterbildung nachgeht, ist Jonas zumindest unter der Woche ausgeflogen. Er befindet sich im zweiten Lehrjahr zum Landwirt EFZ. Das erschliesse auch die Sicht, wie es für die Eltern der Auszubildenden ist, erklärt Kipfer. «Natürlich habe ich die Hoffnung, dass die Lehrmeisterfamilie von Jonas spüren oder erkennen würde, wenn etwas nicht gut ist mit ihm, oder er sich in irgendeiner Weise anders verhält», erklärt die Bäuerin. Und genau darin mag sie sich wohl von einigen anderen Lehrmeisterinnen oder Lehrmeistern unterscheiden. Mit der Ansicht, man sei nicht Ersatzmutter, man müsse sich distanzieren, kann Barbara Kipfer wenig anfangen. «Wir stehen auch in der Verantwortung!», ist sie sicher. Die Ausbildung zum Landwirten oder zur Landwirtin unterscheide sich nun mal von anderen und sei in vielem einfach nicht mit übrigen Ausbildungen zu vergleichen. Zwar würden sie im Normalfall bereits nach einem Jahr wieder gehen, dafür sei aber das Zusammenleben in diesem Jahr viel enger. So bekommen Lehrlinge meist auch viel vom Privatleben und den Diskussionen der Betriebsleiterfamilie mit. Aber auch umgekehrt spüre man einen ersten Liebeskummer, Trauer, Wut oder Überforderung bei einem Lehrling auf dem Bauernhof vermutlich mehr, als es in anderen Berufskategorien der Fall sei, wo Jugendliche ihre Gedanken am Abend mit nach Hause nehmen. Barbara Kipfer ist es gewohnt, schwierige Umstände anzusprechen. Das handhabt sie auch bei Auszubildenden so. «Wenn ich das Gefühl habe, dass etwas den jungen Leute Mühe bereitet, dann frage ich sie konkret.» Nicht konfrontativ, sondern im Vertrauen, ergänzt sie. Das habe schon einige Situationen entschärft, erinnert sich die Lehrmeisterin.
«Gfröiti jungi Lüt»
Barbara Kipfer hört in ihrem Umfeld oft Stimmen, die sich über die «heutige Jugend» beklagen. Das kann sie nicht bestätigen. «Ich durfte durch unsere Lehrlinge viele höchst motivierte, anständige und pflichtgewusste, ‹ja gfröiti jungi Lüt› kennenlernen.» Das Leben mit diesen jungen Menschen empfindet sie als Bereicherung. Es halte flexibel und erweitere den Horizont, «wenn man es denn zulässt», gibt sie zu bedenken.
Die Chemie muss stimmen
Die Anzahl echter Lehrabbrüche (Wechsel in einen anderen Beruf, andere Beschäftigung oder Arbeitsunfähigkeit wegen Unfall/Krankheit) liegt im Kanton Bern bei 1%, wie Karin Oesch vom Berner Bauernverband auf Anfrage mitteilt. Die Anzahl vorzeitiger Lehrvertragsauflösungen (gleicher Beruf aber anderer Lehrbetrieb) liege bei rund 8 %, weiss sie. Diese Zahlen seien in den letzten zehn Jahren konstant geblieben. «Der Hauptgrund für die vorzeitigen Lehrvertragsauflösungen ist die zwischenmenschliche Chemie, die nicht stimmt. Bei Abbrüchen ist es halt die falsche Berufswahl», erklärt Oesch.
Reden fällt schwer
Die Bäuerin weiss, dass man auch offen sein muss, um mit jungen Menschen zusammenzuarbeiten und zu -leben. Es brauche zwingend Gespräche. Nach wie vor sei es aber für viele Familien eine grosse Herausforderung, zu reden. Ein Gespräch über betriebliche Fragen zu führen, falle den meisten Menschen anscheinend leichter, als sich zu persönlichen Dingen zu äussern. «Wenn ein junger Mensch diese Form des Gesprächs gar nicht kennt, muss er das zuerst lernen.» Und diesen Anspruch hat sie an sich. Es gehe nicht darum, quasi Mutter zu spielen oder sich in die Angelegenheiten der jungen Menschen einzumischen. Sondern ihnen eine Möglichkeit eröffnen, zu erzählen und sich auch einmal Gedanken zu einer Herausforderung zu machen und darüber diskutieren. «Das ist nicht unser Kind. Das ist nicht unser Kummer. Das geht uns nichts an», sind Sätze, welche die Bäuerin in ihrem Alltag als Lehrmeisterin nicht anwendet. Sie unterscheidet klar zwischen Einmischung und Anteilnahme. Und diese müsse eben echt sein und nicht mit Ratschlägen vollgepackt. «Ich erfahre zunehmend, wie Leute anscheinend wissen, was
für die anderen gut ist und was nicht. Dann heisst es: Du musst … Mit einer solchen Art von auch gut gemeinten Ratschlägen hilft man niemandem. Weder jungen noch älteren Menschen», weiss sie. «Jeder Mensch ist anders, ich kann nicht sagen, wie es für mein Gegenüber ist, ich kann ihn aber
fragen.» Die Antwort, die da komme, müssten dann auch respektiert werden. «Ich dränge mich nicht auf, ich biete das Gespräch aber an», ergänzt die Bäuerin, die damit gute Erfahrungen gemacht hat. Auch wenn das Zusammenleben mit den Auszubildenden nicht immer einfach sei, «es ist doch eine grosse Befriedigung und Motivation, zu wissen das man als Lehrbetrieb und Familie im Leben eines jungen Menschen Spuren hinterlassen darf und ein wenig dazu beitragen kann, dass sich aus der Raupe ein Schmetterling entwickelt.»