Bauern und Bäuerinnen versuchen seit Jahrhunderten, mit züchterischen Massnahmen Pflanzen und Tiere zu verbessern. Lange hatte sich ausser ihnen kaum jemand anderes ernsthaft für diese Tätigkeiten interessiert.
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Der Einstieg der Akademiker
Das änderte sich am Ende des 19. Jahrhunderts, als auch Wissenschaftler begannen, sich mit Züchtungsfragen zu beschäftigen. Im Unterschied zu den bäuerlichen Getreidezüchtern, die sich auf Beobachtung, Erfahrung und lokales Wissen stützten, orientierten sich Naturwissenschaftler wie Jakob Seiler-Neuenschwander bei ihrer Arbeit an allgemein gültigen «Vererbungsgesetzen», die Gregor Mendel in den 1860er-Jahren aufgrund von Kreuzungsversuchen mit Erbsen formuliert hatte.
Kritik an Bauern-Verfahren
Die bäuerlichen Züchter gingen davon aus, dass die Bestrebungen zur Verbesserung von Getreidesorten immer (auch) von den je spezifischen örtlichen Klima- und Bodenverhältnissen beeinflusst wurden. Die meisten Wissenschaftler hingegen setzten auf Züchtungsmethoden, die von lokalen Eigenheiten zu abstrahieren versuchten und in Labors oder uniformen Zuchtgärten durchgeführt werden konnten. Sie betrachteten bäuerliche Züchtungsmethoden, die auf Auslese- und Beobachtungsverfahren beruhten, schon bald als wenig zielführend und ineffizient.
Gründe für Zusammenarbeit
Solange die Gesellschaft beim Getreide auf Importe und beim Käse auf Exporte setzte, kamen sich Wissenschaftler und bäuerliche Getreidezüchter bei ihrer Züchtungstätigkeit nicht in die Quere. Das änderte sich jedoch in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs, als der Staat begann, die in den Forschungsanstalten betriebene wissenschaftlich orientierte Getreidezüchtung stärker zu fördern, um die Bevölkerung mit Brot aus dem Inland versorgen zu können. Getreidezüchter wie Albert Volkart, der die Forschungsanstalt Zürich-Oerlikon leitete, begannen 1916 auf der regionalen Ebene Saatzuchtgenossenschaften zu gründen, um wieder mehr Bauern für das Saatgutwesen zu gewinnen.
Nicht nur Vermehrer
[IMG 2]Albert Volkart formulierte für die Saatzuchtgenossenschaften Musterstatuten, die die Zusammenarbeit zwischen den Agronomen an den Forschungsanstalten und den bäuerlichen Getreidezüchtern, die er als Vermehrer betrachtete, regeln sollten. Allerdings begannen sich die Bauern gegen die von Volkart angestrebte Arbeitsteilung zwischen züchtenden Wissenschaftlern und Saatgut produzierenden Bauern zu wehren.
In Zürich beispielsweise bestanden sie darauf, in den Statuten der 1917 gegründeten Saatzuchtgenossenschaft auch als Züchter, nicht nur als Vermehrer bezeichnet zu werden, wie aus dem hier abgebildeten Protokoll der Gründungsversammlung vom März 1917 ersichtlich wird.
Einsicht und Lernfähigkeit
Volkart zeigte sich einsichtig und lernfähig zugleich. In der Folge arbeitete er, wie sein welscher Kollege Gustave Martinet schon seit einigen Jahren zuvor, eng mit den bäuerlichen Saatzüchtern zusammen. Gemeinsam verbesserten sie alte Sorten und entwickelten neue. Unterstützung erhielten die kooperierenden wissenschaftlichen und bäuerlichen Saatzüchter vom Bund, der mit dem Aufbau einer kollektiven Züchtungsordnung dafür sorgte, dass die Bauern die von ihnen in Zusammenarbeit mit den Forschungsanstalten verbesserten Getreidesorten gebührenfrei zur Aussaat verwenden konnten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam diese kollektive, die Züchtung, nicht die Sorten schützende Ordnung ins Wanken, weil in der allgemeinen Pflanzenzüchtung nun zunehmend Sorten statt wie bisher die Züchtung von Sorten geschützt wurden. Saatgut, das von geschützten Pflanzen stammte, durfte jetzt nicht mehr ohne Zustimmung oder Abgeltung des Inhabers der Sorte zum Anbau eingesetzt werden.
«Landwirteprivileg» ab 2013
Beim Getreide durften die Bauern das von ihnen angebaute Getreide zwar weiterhin zur Aussaat verwenden, aber mit dem Schutz des Produkts (der Sorten) statt des Prozesses (des Züchtens) wurde die jahrhundertalte Praxis zu einem «Privileg». Im 1977 in Kraft getretenen ersten Sortenschutzgesetz taucht der Begriff zwar noch nicht auf, aber 2013 wurde auch in der Schweiz die alte bäuerliche Praxis auf der Gesetzesstufe in ein «Landwirteprivileg» umgewandelt – und damit eine wichtige Voraussetzung für eine im 21. Jahrhundert verstärkt angestrebte Privatisierung der Getreidezüchtung geschaffen.