Stundenlang Serien streamen und die reale Welt ausblenden. Rauschhafte Shoppingtouren ohne Rücksicht auf den Kontostand. Der farbenfrohen Schüssel mit Süssigkeiten nicht widerstehen können. Der fast schon reflexartige Griff zum Handy, um die Social-Media-Kanäle zu checken. All diese Tätigkeiten lösen in unserem Körper Dopamin-Schübe aus, die sich kurzfristig angenehm anfühlen. Das hat seine Tücken.

Dopamin ist einer der vielen biochemischen Botenstoffe oder Neurotransmitter, die in unserem Gehirn gebildet werden. Diese Neurotransmitter sind lebenswichtig und zuständig für die Weiterleitung von Reizen von einem Nerv zum anderen. Sie haben unterschiedliche Aufgaben.

Wir erwarten Belohnung

Dopamin wird auch als «Glückshormon» bezeichnet. Doch damit ist Renanto Poespodihardjo nicht ganz einverstanden. Er ist leitender Psychologe am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitätskliniken Basel. «Es geht bei Dopamin weniger um Glück als um Belohnungserwartung.»

Zum Beispiel sieht und riecht man in der Bäckerei, in der man das übliche Vollkornbrot kaufen will, einen frisch gebackenen Schoggi-Kuchen. Das Gehirn kurbelt die Dopamin-Produktion an und man spürt das Verlangen, den Kuchen zu kaufen und sofort zu essen. Als «Belohnung» erwartet unser System den feinen Geschmack des Schoggi-Kuchens im Mund.

[IMG 2]

Körper verlangt immer mehr Dopamin

Klingt harmlos und vergnüglich. Doch in unserer Zeit wird das Gehirn mit Reizen von aussen überflutet. Es kann sich ein Gewöhnungseffekt einstellen, dann verlangt das Körpersystem nach immer mehr Dopamin. Das wiederum kann zu Verhaltenssüchten führen wie etwa zur Sucht nach Onlinespielen oder auch Handy-, Shopping-, Sex- und Pornografiesucht. «Dopamin hat überall einen Einfluss, wenn es um Sucht und Abhängigkeit geht», sagt Renanto Poespodihardjo. «Das Verlangen flutet unser System. Die negativen Konsequenzen werden abgeschottet.»

Kleine, alltägliche Dopamin-Kicks kann unser Körper selbst ausgleichen. Man könne sich wie eine innere Waage vorstellen, erklärt Renanto Poespodihardjo. «Wird zu viel eines Neurotransmitters ausgeschüttet, möchte der Körper den Überschuss abbauen.»

Normales Ungleichgewicht

Solch kleinere Dopamin-Schübe erleben wir als vorübergehendes, leichtes Tief. «Dieses Ungleichgewicht ist genauso normal wie das Gleichgewicht. Das System bleibt daher entspannt, wir kommen damit zurecht», so der Fachmann weiter. Bei einem ständigen «Zuviel», egal, ob am Geldspielautomaten oder beim Essen, entsteht ein chronisches Ungleichgewicht. Das innere Balance-System gerät aus dem Lot. Man wird abhängig nach der schnellen Belohnung.

Doch wie merkt man, wenn es zu viel des Guten wird?

  • Man verliert die Kontrolle über die Häufigkeit und Dauer eines Verhaltens oder die Menge des Konsums, zum Beispiel, wenn man auch an Arbeitstagen die halbe Nacht Serien streamt oder Süssigkeiten ohne Ende isst.
  • Man spürt ein starkes Verlangen, etwa wenn man alle paar Minuten zum Smartphone greift.
  • Man kann nicht aufhören, selbst wenn man die negativen Konsequenzen kennt, wie etwa bei einem Kauf-Rausch.

[IMG 3]

Vernunft setzt aus

Ist man in diesem Zustand, hat die Vernunft meist wenig Chancen. «Sie ist in einem neueren Teil des Gehirns angesiedelt», sagt Renanto Poespodihardjo. Bei Suchtverhalten bestimmt der älteste Teil des Gehirns, auch Reptiliengehirn genannt, unser Verhalten. «Der suchtkranke Mensch bleibt im Modus der Erregung und Belohnungserwartung stecken.»

Als Beispiel nennt er einen Glücksspielautomaten: Man wirft fünf Franken hinein und gewinnt vier Franken. Man hat also einen Franken verloren. Trotzdem beglückwünscht uns die Maschine mit blinkenden Lichtern und Tönen. «Sie sind ein Gewinner!», heisst es auf dem Bildschirm – und unser System fällt darauf hinein.

[IMG 4]

Oder ein Besuch in einer Filiale jener günstigen Möbelhäuser, die auch allerlei Accessoires im Angebot haben: Man findet zwar den Sessel nicht, den man kaufen wollte. Doch auf dem verschlungenen Weg bis zur Kasse füllt sich die Einkaufstasche auf fast schon wundersame Weise mit Dingen wie Windlichtern, Servietten oder Küchenkram. Und nach der Kasse locken Stände mit günstigem Essen.

Entzugserscheinungen

In Einzelfällen und wenn unser System im Gleichgewicht ist, kann man solche Situationen selbstironisch belächeln. Ist man hingegen bereits im Suchtmodus, etwa beim Thema Glücksspiel, treten Entzugserscheinungen auf, wenn man dem Verlangen nicht nachgeben kann: Man kann sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren, vernachlässigt Hobbys, ordnet jenseits aller Vernunft vieles der Sucht unter. Man zieht sich aus dem Sozialleben und der Beziehung zurück. Menschen mit einer Suchterkrankung, die ihre Abhängigkeit überwinden möchten, brauchen dazu in der Regel ärztliche Hilfe.

Nicht verteufeln

Doch was kann man tun, wenn man das ungute Gefühl hat, ein Verhalten laufe aus dem Ruder? Ist Dopamin-Fasten eine gute Idee, also für eine bestimmte Zeit ganz auf die «schnellen Belohnungen» zu verzichten? «Jein, es ist ein Hype», sagt Renanto Poespodihardjo. Er möchte die alltäglichen Dopamin-Kicks nicht verteufeln.

«Grundsätzlich ist es nicht schlimm, mal einen Frustkauf zu tätigen oder sein Glück an einem Geldspielautomaten zu versuchen», erklärt er weiter. Doch das Verhalten sollte nicht zur Konfliktlösung eingesetzt werden. Etwa, dass man ins Casino geht, weil man sich daheim einsam fühlt. «Auch die Häufigkeit spielt eine Rolle.»

Mit dem Thema beschäftigen

Der «Dopamin-Detox»-Hype habe aber auch etwas Gutes: «Man beschäftigt sich mit dem Thema Überdosierung, wenn auch oft nur oberflächlich.»

Um den Dopamin-Haushalt in der Balance zu halten, hilft es, Dinge zu tun, bei denen die «Belohnung» erst später kommt, wie etwa Wandern, Handarbeiten oder Gärtnern. Oder Langeweile mal wieder bewusst zuzulassen, im Sinne von: eine Weil verweilen, sich mit sich selbst beschäftigen. «Kommt kein sensorischer Input, sucht der Körper in sich selbst, wir werden kreativ», sagt Renanto Poespodihardjo. Dazu gehört, sich Zeit für reale Treffen mit einem engen Freund, einer Freundin zu nehmen. «Wir haben einen grossen Werkzeugkoffer zur Verfügung, um Alltagsfrust zu meistern.»

Weitere Informationen: www.sos-spielsucht.ch