«Das, was ich hier erfahre, ist etwas, das ich bisher in keiner Therapie hatte», erzählt der junge Mann, vis-a-vis am Tisch. Er lacht, sucht nach den richtigen Worten: «Wertschätzung, gebraucht werden, jemand sein». Thomas (Name geändert) lebt seit zwei Jahren bei Familie Steffen in Uttigen BE. «Keinen Bus, keinen Zug, keine Beiz, keinen Ausgang hat es hier, nur in den Volg kann ich mit dem Fahrrad», erzählt Thomas weiter. Für ihn, der ursprünglich aus St. Gallen kommt, eine herbe Umstellung. Und jetzt ist er auf dem Absprung in ein neues Leben. Seit zwei Wochen hat er einen Arbeitsplatz, kommt nur noch zum Schlafen und Essen auf den Hof von Steffens. Noch zwei Wochen, dann hat er auch eine eigene Wohnung. Extern zwar, aber doch in der Nähe. «Dann kann ich ja noch ab und zu zu Besuch kommen», meint er, halb ist es eine Frage, halb eine Bitte. Thomas weiss, er ist noch nicht im sicheren Hafen. Er hat noch einen langen Weg vor sich.
Klare Regeln bestimmen den Alltag
Auch Steffens wissen das. Sie betreuen seit vielen Jahren für Projekt Alp Menschen. Vorwiegend Suchtkranke. Früher sei das Heroin oder Kokain gewesen. Die einen schliefen über der Suppe ein, die andern zerlegten in den ersten Tagen das nötige Feuerholz für den ganzen Winter. Heute seien es Designerdrogen, das sei viel schlimmer. Oftmals seien diese Menschen völlig kaputt bei ihrer Ankunft, körperlich am Ende, erzählen Steffens aus ihrer langjährigen Erfahrung. Und sie gehen die Sache mittlerweile abgeklärt und pragmatisch an. «Wir bieten unsere Unterstützung und eine Struktur an, aber schaffen müssen sie es selber. Wir sind auch nicht ihre engsten Freunde, die Regeln sind hier vom ersten Tag an klar», betont Andreas Steffen. Er weiss, wie Suchtkranke ticken, wenn sie tricksen, um an ihren Stoff zu kommen. Seine Frau Maria ergänzt: «Man darf auch nicht denken, dank uns schafft es jeder. Wir schätzen, dass nur etwa ein Viertel unserer Klienten die Sucht in den Griff bekommen.»
Angebot von Projekt Alp
Das Projekt Alp mit Sitz in Münsingen BE bietet im Kanton Bern betreute Einzelplätze in Gastfamilien für Menschen an, die bei der Bewältigung ihres Alltages vorübergehend nicht mehr zurechtkommen. Die Aufenthaltsdauer ist individuell und das Angebot richtet sich an Menschen mit Suchtproblemen, die beispielsweise
- nach Beendigung des körperlichen Entzugs Zeit und Abstand sowie Betreuung für ihre schrittweise Integration brauchen.
- mit einer psychischen Erkrankung, die beispielsweise nach einem Klinikaufenthalt einen geschützten und betreuten Rahmen benötigen.
- sowie Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr, die in ihrem gewohnten Umfeld nicht mehr zurechtkommen und ihre Ziele beispielsweise durch eine Suchtmittelgefährdung nicht verfolgen können.
Das Leben auf dem Hof war die letzte Chance
Auch Thomas hat eine lange Sucht- und Klinikkarriere hinter sich. «Mein Hirn ist das eines 17-Jährigen und ich muss viel nachholen, das ich während der Sucht verpasst habe. Man entwickelt sich in dieser Zeit nicht weiter, im Gegenteil», erzählt er. Projekt Alp war für ihn die letzte Chance. In der Klinik hielt er es nicht aus. Über alles habe man reden und verhandeln müssen, Protokolle ausfüllen, das gebe es hier nicht. Hier könne man auch reden. Aber die meiste Zeit sei er am Arbeiten. Mit den Tieren, den Maschinen. Andreas habe ihm viel erklärt, gezeigt, wie man es mache und auch mal die Sorgen und Nöte abgehört. Aber man habe seine Fortschritte mehr in den Vordergrund gestellt als die Rückschritte. Und er habe viel Zeit für sich und zum Nachdenken gehabt, habe gelernt, was er könne und sei und wohin er seinen Weg ansteuern wolle.
Lernen, alleine zu sein gehört dazu
Schwierig seien die Stunden am Abend, wenn er alleine in seiner Einliegerwohnung sei. In der ersten Zeit musste er sogar sein Handy abgeben, hatte nur wenig Kontakt nach aussen. Damals sei noch das Haus umgebaut worden und er habe dabei helfen können. Das habe ihm gefallen. Abends habe er ein Buch gelesen, Musik gehört. Ungewohnt für ihn und eine neue Erfahrung. Begeisterung löste es nicht aus, aber ein Umdenken. So musste er lernen, mit den Gedanken an die Versuchung umzugehen, ohne ihnen nachzugeben. Doch auch jetzt baut er sich sein Leben bewusst in der neuen Heimat auf. «Zurück zu den alten Freunden und Kollegen oder der Familie ist meistens keine gute Idee», weiss Andreas Steffen aus Erfahrung.
Der Platz am Küchentisch ist jederzeit frei
Als Thomas vorgeschlagen wurde, seine Therapie auf einem Bauernhof zu machen, sei er sofort einverstanden gewesen: «Das erste Mal war ich mit meiner Betreuungsperson von Projekt Alp hier. Wir wurden uns gegenseitig vorgestellt und Andreas hat mir die Regeln erklärt». Er richtet seine grossen braunen Augen auf Andreas und lächelt verlegen. Ihm habe es auf Anhieb gefallen. «Hier am Küchentisch hat es immer einen Platz für mich, wenn es mir nicht gut geht und wenn ich reden will, nehmen sie sich Zeit», erzählt er. Für den ersten Programmpunkt jedes Tages sorgt Maria Steffen: «Um 7.30 Uhr gibt es hier am Tisch Frühstück. Da möchten wir, dass die Klienten hier sind». Manchmal sei es auch der Duft einer frischen Züpfe, der die Motivation etwas erhöhe, erzählt sie und lacht. «Ich war fast jeden Morgen um 7.30 Uhr hier unten am Tisch», zieht Thomas Bilanz und ergänzt: «Jeden Tag, an dem ich es geschafft habe aufzustehen, gab mir Selbstvertrauen und war ein Tag mehr, an dem ich die Sucht besiegt hatte».
Der Klient muss zur Familiensituation passen
Thomas steht vom Tisch auf, verabschiedet sich, streichelt den Familienhund: «Hast du deine Wäsche gewaschen und zum Trockenen aufgehängt?», fragt Maria noch. «Ja sicher», antwortet Thomas und zwinkert amüsiert, bevor es sich auf der Terrasse eine Zigarette anzündet. Wieder in den Alltag finden, lernen, den eigenen Haushalt zu führen ist ein wichtiger Schritt. Sich um ihre Wohnung und Wäsche zu kümmern, lernen darum die Klienten mit der Hilfe von Maria Steffen hier. Thomas' Tage hier sind gezählt. Nach ihm wird ein neuer Klient einziehen und Steffens werden mit ihm wieder bei Null anfangen. Sie hatten immer Klienten bei sich am Tisch. Vor ihnen schon die Eltern von Andreas Steffen. Sie gehörten zu den ersten Gastfamilien für Projekt Alp. Manchmal waren es Jugendliche, manchmal Ältere. Was gerade zur Familiensituation und zum Alter der eigenen Kinder passte. Steffens sind es gewohnt, Menschen ein Zuhause auf Zeit zu geben, ihnen zu helfen, Tritt zu fassen, und dann wieder loszulassen. Fast jedenfalls. «Wir sind für alle da, die mal bei uns gelebt haben», betont Andreas Steffen. «Wenn hier einer von ihnen anruft, dann höre ich zu, denn dann weiss ich, dass sie etwas Wichtiges auf dem Herzen haben.»
Der Bauernhof hilft, Wurzeln zu schlagen
Betreut werden die Klienten auch in einem wöchentlichen Gespräch mit der Betreuungsperson von Projekt Alp. Hier werden die Fortschritte besprochen und neue Ziele definiert. Alle Beteiligten sind darauf eingestellt, dass es ein langer und anstrengender Weg ist. Wer jedoch die Chance hat, ein Stück dieses Weges auf einem Bauernhof zu gehen, Stabilität und Nähe zur Scholle zu fühlen, der kann scheinbar einfacher wieder Wurzeln im Leben schlagen. Jedenfalls ist die Nachfrage nach Betreuungsplätzen gross. Projekt Alp sucht deshalb auch neue Gastfamilien. Es sind oftmals gerade Menschen, welche nicht in einer Klinik zurechtkommen, die schwierigen Fälle, welche sich auf Bauernhöfen sehr wohl fühlen.
Wie wird man Gastfamilie?
Interessierte Familien und Familien, die einen landwirtschaftlichen Betrieb im Kanton Bern, Solothurn oder Freiburg führen, können sich jederzeit bei Projekt Alp melden. Daraufhin besucht Projekt Alp die potenzielle Gastfamilie zu einem unverbindlichen Infogespräch und Kennenlernen auf dem Hof. Damit eine Zusammenarbeit erfolgen kann, müssen neben einer schriftlichen Bewerbung ein Antrag auf eine Pflegeplatzbewilligung gestellt und einige weitere Formalitäten geklärt werden. Auf Wunsch vermittelt Projekt Alp gern die Kontaktdaten von Gastfamilien, die schon längere Zeit mit Projekt Alp zusammenarbeiten. Für Unterkunft, Verpflegung und Betreuung werden die Gastfamilien finanziell entschädigt. Wichtige Voraussetzung sind unter anderen ein eigenes Zimmer für die Klienten und die Bereitschaft, einen Menschen in einer Krisensituation zu begleiten und mit Projekt Alp zusammenzuarbeiten. Die Gastfamilie wird in ihrer Arbeit mit der Klientin, dem Klienten von Projekt Alp professionell unterstützt und begleitet.
Tapetenwechsel und andere Menschen geben eine neue Struktur
Auch bei Thomas hat der Aufenthalt bei Steffens ein kleines Wunder bewirkt. Für ihn war es nach verschiedenen Kliniken und erfolglosen Therapieversuchen die letzte Chance. Genauso wie zuvor für ein paar Jugendliche, die zuhause mit den Eltern nicht mehr zurechtkamen und denen der Tapetenwechsel und die neuen Menschen eine neue Perspektive gaben. «Gerade bei Jugendlichen, welche uns gebracht wurden, gab es hier im strukturierten Umfeld oftmals gar keine Probleme mehr, so dass wir uns fragen, was eigentlich das Problem gewesen sei», erzählt Maria Steffen. Früher waren es vorwiegend Suchtpatienten, welche durch Projekt Alp betreut wurden, heute fallen immer mehr Menschen durch das Netz der Gesellschaft und brauchen aus verschiedenen Gründen eine Betreuung oder ein Timeout. So hat sich auch die Aufgabe der Gastfamilien etwas verändert und die Anforderungen sind nicht kleiner geworden. Steffens wollen trotzdem so lange wie möglich noch weitere Klienten bei sich aufnehmen. «Weil wir es gut getroffen haben im Leben und auch etwas davon weitergeben möchten», betont Andreas Steffen seine Motivation.