Am 24. Februar 2022 klingelte bei Natalia Politova frühmorgens das Telefon. Eine Bekannte – Mutter eines autistischen Sohnes – fragte die Tierärztin aus Madiswil BE um Rat bezüglich Evakuierung. So erfuhr die Ukrainerin, dass Russland ihr Heimatland angegriffen hatte. Plötzlich herrschte Krieg.

Die Mutter will nicht weg

«Obwohl es Spannungen gegeben hatte, war die Nachricht ein Schock», erinnert sich die 46-Jährige. Am Anfang konnte sie kaum schlafen und musste dauernd weinen. «Ich stand unter Dauerstress.» Ihre Familie befand sich in der okkupierten Zone, das Haus in Irpin wurde zerstört. «Meine Mutter sass unter Bombenhagel im Keller.» Ihr Vater stammte aus Hostomel, ihre Mutter aus Butscha, das für das dortige Massaker an der Zivilbevölkerung weltweit traurige Berühmtheit erlangte.

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Zur Person

Tierärztin Natalia Politova stammt aus der Nähe von Kiew. Nach dem Studium arbeitete sie in einer Tierarztpraxis und im Marketing.

Als ihr Mann eine Stelle als Programmierer in Madiswil fand, zogen sie vor rund 20 Jahren in die Schweiz, wo die beiden Söhne zur Welt kamen. Sie arbeitete bei Markus Staub und danach bei Beat Disler.

Die Praxis «Alte Post» hat sie mittlerweile übernommen. Rund die Hälfte der Arbeit in ihrer Praxis in Kleindietwil BE betrifft Haustiere, die andere landwirtschaftliche Grosstiere.

Website

Gleichzeitig wurde die Gross- und Kleintierärztin, die Mitinhaberin der Praxis «Alte Post» in Kleindietwil BE mit drei Angestellten ist, sofort aktiv. Sie konnte eine Tante, eine Cousine mit ihren Kindern und die Schwiegermutter nach Madiswil und Umgebung bringen.

Ihre Mutter (76) harrt bis heute in der Ukraine aus. «Sie würde nicht gehen, egal, was passiert. Sie macht sich zu grosse Sorgen um meinen Bruder.» Dieser meldete sich, obwohl herzkrank, am Tag nach Kriegsausbruch für den Militärdienst. «Sie sagten ihm, du kannst nicht, du bist krank.» Jetzt leistet er zusammen mit seinem Sohn Zivildienst.

Hilfe vor Ort und hier

Natalia Politova und ihr Tierarztkollege Markus Staub riefen mit Flugblättern zu Sach- und Geldspenden auf. Innerhalb weniger Tage kamen über 20 Tonnen Hilfsgüter zusammen (Medikamente, Verbandsmaterial, Batterien, Windeln, Hygieneartikel, Babynahrung und haltbare Nahrungsmittel). Am 16. März 2022 fuhr ein grosser LKW in Kleindietwil Richtung ukrainischer Grenze los.

«Als ich das erste Mal zu Hause war, sagte mir meine Psyche: ‹Das ist ein Film.›»

Natalia Politova reiste seit Kriegsausbruch zweimal in die Ukraine

Kümmert sich um Geflüchtete

Gleichzeitig kümmerte sich Natalia Politova um in der Region eintreffende Flüchtlinge – die allermeisten davon Frauen mit Kindern. Noch heute lobt sie die grosse Hilfsbereitschaft der Gemeinde Madiswil, ihrer Kunden (darunter viele Bauernfamilien), der lokalen Bevölkerung und Firmen, die etwa Wohnungen zur Verfügung stellten.

Am Anfang betreute sie 54 Personen, mittlerweile sind es noch rund 30. Was sie über deren Schicksale erzählt, geht einem nahe – man sieht Politova an, dass sie bei ihren Schilderungen den Tränen nahe ist. Eine Frau aus der Region ihrer Mutter habe ansehen müssen, wie ihr Mann getötet wurde. Deren 16-jährige Tochter sei von russischen Soldaten vergewaltigt worden.

Psychische Probleme

Andere sind längst wieder in der Ukraine. «Der Mann einer Frau, die ich betreue, starb im Krieg. Sie hat ihre zwei kleinen Kinder und ihre Sachen gepackt und ist zurückgereist. Die Eltern einer anderen Frau wurden in der okkupierten Zone von einer Bombe getötet – auch sie ging zurück. Sie sagen, lieber im Bombenhagel, wo Verwandte und Freunde sind, als hier einsam und mit dieser ständigen Unsicherheit.»

Am Feierabend tauscht Andriana Sobchuk Gummistiefel und Arbeitshose gegen das Sommerkleid. Sie mag Mode. Ukraine-Krieg Von der Ukraine als Erntehelferin in die Schweiz: «Vor dem Krieg hatte ich viele Pläne. Davon ist nicht viel übrig» Tuesday, 7. June 2022 Um die psychische Gesundheit vieler Geflüchteter stehe es schlecht :«Ich kenne Frauen, die wochenlang nicht draussen waren. Sie schafften es nicht. Sie konnten nicht schlafen.» Viele verstünden nicht, warum sie trotz guter Ausbildung in der Schweiz nicht auf ihrem Beruf arbeiten könnten. «Viele entwickeln Depressionen.» 

Ukrainischer Markt als Ablenkung

Natalia Politova versucht, die Frauen abzulenken. Am 18. Dezember veranstalteten sie einen Markt in der Madiswiler Mehrzweckhalle, kochten, backten, bastelten, nähten und verkauften die Erzeugnisse für die Hilfe im Heimatland. Sie zeigten Filme und eine Ausstellung mit Bildern aus der kriegsversehrten Ukraine. Das Geld wird für die Zivilbevölkerung und das Militär eingesetzt. «Es braucht Generatoren, warme Kleidung, Schlafsäcke, Handschuhe, Socken.» Ausserdem nähen sie Tarnnetze für die ukrainischen Soldaten.

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Ruine an Ruine

Natalia Politova war seit Kriegsbeginn zweimal in der Ukraine, das erste Mal Ende April, das zweite Mal im Juli. «Wir hatten ständig Raketenalarm, die Sirenen heulten.» Als sie durch das schwer beschädigte Irpin ging und das Familienheim zerstört vorfand, «sagte mir meine Psyche: ‹Das ist ein Film.› Du siehst eine Ruine nach der anderen und bist nicht sicher, wo du genau bist, ob das jetzt das Haus der Nachbarn ist oder nicht.»

Kaum Strom - und man weiss nie, wann genau

Auch ein Jahr nach Kriegsausbruch ist die Situation schwierig, selbst, wenn es der ukrainischen Armee gelang, grosse Gebiete zurückzuerobern und Siege zu erringen. Die russischen Angriffe auf die Energieversorgung setzen der Zivilbevölkerung zu: «Ich habe gestern mit meiner Mutter telefoniert. Sie hat innerhalb von 24 Stunden nur für zwei bis drei Stunden Strom. Und sie weiss nie, wann genau.»

Eine Freundin lebt mit zwei Kindern (drei und sechs Monate) im elften Stock eines Hochhauses in der Hauptstadt Kiew. «Es gibt keine Heizung, kein Wasser, meist keinen Strom. Am Abend macht sie für die Kinder Disco – die Musik kommt aus dem Akku-Radio, das Licht von der Taschenlampe.»

«Wir sind ein kampferprobtes Volk. Wir geben nicht auf.›»

Natalia Politova ist sicher, dass die Ukraine den Krieg gewinnen werde. Die  Frage sei nur, wann. 

Kriegsmüdes Europa

Natalia Politova ist klar, dass die Menschen in Europa, auch in der Schweiz, langsam kriegsmüde seien: «All diese Schlagzeilen über die Ukraine. Am Anfang haben sie sich das alles zu Herzen genommen, aber um diesen ständigen Schmerz auch heute noch zu spüren, musst du wahrscheinlich Ukrainer(in) sein oder Menschen vor Ort kennen.»

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Sie hofft weiter: «Die Ukraine wird gewinnen. Die Frage ist nur, wann.» Die Welt werde nicht auf Dauer einen so grossen Aggressor wie Russland akzeptieren. Politova ist stolz, Ukrainerin zu sein: «Wir sind ein kampferprobtes Volk. Wir geben nicht auf, egal, was kommt. Ich habe noch niemanden von uns sagen hören, man müsse mit Putin einen Kompromiss finden.»

Unterstützungsmöglichkeit
IBAN CH 67 0631 3016 1800 6270 2, Esplanchnos Koord. Dienste, Markus Staub,
4934 Madiswil