Heute ist von diesem Wissen kaum etwas geblieben. Und doch: Wer Musik aus dem 17. oder 18. Jahrhundert ernsthaft spielen will, kommt an diesem Material nicht vorbei. Genau dort setzt die Arbeit von Stephan Schürch an. Der Geigenbauer aus Burgdorf hat sich auf historische Instrumente spezialisiert – und gemerkt, dass zu echter historischer Spielweise auch echte Darmsaiten gehören – genauer Schafdarmsaiten. Was simpel klingt, ist in Wahrheit ein rekonstruktives Abenteuer.
Darm war Standard
Der Siegeszug der Darmsaite war einst untrennbar mit der Entwicklung der Streichinstrumente verbunden. Ab dem 17. Jahrhundert eroberte sie die Königshäuser Europas – und mit der Geigenbaukunst auch das breite Publikum. Bis etwa 1950 gehörten Darmsaiten zum Standard. Dann kam die Verdrängung: Zuerst durch Stahlsaiten, dann durch Kunststoff. Klanglich hielt man zwar lange an der Tradition fest, doch die Produktion verlagerte sich – und mit ihr verschwand das Wissen.[IMG 2]
Interessanterweise waren ursprünglich viele Hersteller von Darmsaiten gleichzeitig Produzenten medizinischer Materialien: sogenanntes Catgut, zum Wundennähen. Deutschland deckte einst zwei Drittel des Weltmarktbedarfs ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Industrie aber langsam unter. Synthetikmaterialien lösten den Schafdarm Schritt für Schritt ab – sowohl in der Musik als auch in der Chirurgie. Ersetzt wurde er durch Rinderdarm: günstiger, rissfester, maschinell verarbeitbar. Doch dann kam BSE – und auch diese Lösung verlor an Boden. Und das Heikle an der Geschichte: Nur zwei Saitenhersteller weltweit hielten über längere Zeit den Schafdarm für Musikinstrumente überhaupt noch am Leben.
Für Stephan Schürch stand fest: Wenn historische Musik glaubwürdig gespielt werden soll, muss auch das Material stimmen. Doch das alte Wissen um die Saitenherstellung war so gut wie verschwunden. Zwar habe man es «noch gewusst», sagt er, aber eben kaum mehr praktiziert. Erst ein Forschungsprojekt, in dem Samuel Kohler von der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) in Zollikofen als Verbindungsperson half, gab den entscheidenden Impuls: Die traditionelle Schafdarmsaite sollte neu zum Leben erweckt werden.
Auf nach Spanien
Wer Schafdärme benutzen will, muss sie erst einmal putzen. Doch auch dieses Handwerk gibt es in der Schweiz nicht mehr. «Das findet aus Kostengründen nicht mehr statt.» Schürch musste also dorthin, wo es noch lebt: nach Spanien. In Spanien lernte der Burgdorfer Geigenbauer dieses Handwerk der Darmreinigung bei einer Familie, «die nichts anderes macht als Därme putzen». Dort, wo der Darm noch vollständig von Hand verarbeitet wird, fand er das, was er in der Schweiz nicht mehr bekommen konnte. Ohne diesen Schritt wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Dort sah er, wie Material behandelt wird, das für die Industrie längst zu teuer und zu aufwendig ist.
Neue Wege suchen
Gerade weil das Handwerk auf tierischem Material basiert, sieht Schürch auch eine Verbindung zur Landwirtschaft. «Der Schafdarm war nie ein Edelteileprodukt – eher Abfall, der sinnvoll genutzt wurde. In der Schweiz wird das heute weggeschmissen.» Hier gäbe es Potenzial – auch für neue Kooperationen mit der Landwirtschaft.
Ein erster Schritt? Vielleicht. Sicher ist: Schürch geht es nicht nur um Saiten, sondern auch um Tradition und um Kultur. Der Klang der Zeit liegt darin verborgen.
Vom Darm zur Geigensaite
Die Grundlage für hochwertige Saiten liegt im sorgfältig ausgewählten Rohmaterial. Besonders wichtig ist die Qualität des rohen Schafdarms, die durch Herkunft, Rasse und Schlachtalter der Schafe massgeblich beeinflusst wird.
Der Dünndarm wird grob gereinigt und anschliessend nach alter Tradition ausschliesslich von Hand entschleimt und geputzt. Dabei kommen die Erfahrung und das Feingefühl des Darmputzers sowie ein Schilfrohr zum Einsatz – eine Präzision, die keine Maschine erreichen kann.
Jeder Darm wird gründlich mit Wasser durchgespült, auf Fehler geprüft und nach Stephan Schürchs Anforderungen sorgfältig ausgewählt und sortiert. So gewährleiste nur bestes Rohmaterial den Grundstein für erstklassige Saiten, sagt er.