Überall leuchten die Äpfel rot an den Bäumen. In diesen Tagen sind Susanne und Othmar Keiser praktisch jeden Tag am Ernten. Immer fleissig am Mitarbeiten ist Pirmin Langenstein. Der 29-Jährige fand vor mehr als 11 Jahren über die Stiftung «Landwirtschaft und Behinderte» (LuB) einen Wohn- und Arbeitsplatz bei Familie Keiser.
Susanne und Othmar Keiser bewirtschaften gemeinsam den Urihof auf dem Zugerberg ZG an bester Aussichtslage. Zum Landwirtschaftsbetrieb mit rund 17 ha Nutzfläche gehören 300 Hochstamm-Obstbäume. «Hier wachsen 13 Sorten Mostäpfel», sagt Othmar Keiser bei einem Hofrundgang.
Eigener Vertrieb
Weiter geht es zur eigenen Mosterei, die in einem alten Holzschopf mit Steinfundament untergebracht ist. «So können wir immer am Schärmen arbeiten.» Familie Keiser verarbeitet den Apfelsaft nicht nur selbst auf dem Hof, sie vertreibt ihn auch selber über verschiedene Kanäle.
Ein weiterer Betriebszweig ist die Milchwirtschaft: 20 Simmentaler-Kühe beherbergt der Hauptstall, die Jungtiere sind im Nebengebäude untergebracht. «Eine gute Zweinutzungsrasse», sagt Othmar Keiser über seine Wiederkäuer. Sie würden zu den vielen stotzigen Weiden passen, die sie hier in der Bergzone I hätten.
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Eine soziale Ader
Nach dem Hofrundgang geht es in die Küche, Susanne Keiser tischt einen selbstgemachten Apfelstrudel auf, mit Früchten vom Hof. Sie und ihr Mann sind seit 25 Jahren Pächter auf dem Urihof. Schon bei der Hofübernahme kam die Idee auf, soziale Dienstleistungen anzubieten. Othmar Keiser war nach seiner Lehre als Landwirt einige Jahre im landwirtschaftlichen Bereich des Massnahmenzentrums Uitikon-Waldegg ZH tätig. «Ich habe in der Zeit gern mit den delinquenten Jugendlichen gearbeitet», erinnert er sich.
Das Paar bot in den ersten Jahren Timeouts an: Junge Menschen in Krisensituationen konnten auf dem Hof mit seinen klaren Strukturen eine neue Perspektive gewinnen. Susanne Keiser bildete sich am landwirtschaftlichen Zentrum Liebegg für das Betreuungsangebot weiter. «Die Schulung zog sich über zwei Jahre und gab mir viele neue Inputs», sagt die ausgebildete Hauspflegerin und Bäuerin.
Die Jugendlichen blieben jeweils zwei bis drei Wochen auf dem Hof. «Solange unsere Kinder klein waren, lief das gut», erzählt Susanne Keiser weiter. Das Paar ist Eltern von vier mittlerweile erwachsenen Kindern, drei Töchtern und einem Sohn. «Doch als unsere Töchter ins Teenageralter kamen, suchten wir nach Alternativen.»
Selbst ausgesucht
So stiessen sie auf die Stiftung LuB. Die Organisation bringt «Menschen mit Beeinträchtigungen und Bauernfamilien zusammen», wie es auf der Website heisst. Das können Dauerplatzierungen mit Hofmitarbeit sein oder berufliche Ausbildungen. Über die Stiftung fand auch Pirmin Langenstein zu Familie Keiser. Er hat eine kognitive Beeinträchtigung und autistische Züge, redet nicht viel und beobachtet gut. «Ich habe mir damals noch einen anderen Hof angeschaut», erzählt er. «Doch hier gefiel es mir besser, weil es Kühe hat.» Der Engelberger arbeitet fünfeinhalb Tage in der Woche auf dem Urihof und hat hier ein Zimmer.
Für Othmar Keiser fängt der Tag auf dem Hof um 5 Uhr mit der Stallarbeit an. Nach dem Frühstück um 7.30 Uhr beginnt auch für Pirmin Langenstein der Arbeitstag. «Dann räume ich den Stall fertig auf», erklärt der Hofmitarbeiter. Rund einen halben Tag arbeiten die beiden Männer jeweils zusammen, jetzt im Herbst etwa bei der Apfelernte oder beim Mosten. Oder sie zäunen zusammen. «Allein zäunen kann Pirmin nicht», erklärt Othmar Keiser. «Aber er rollt gern das Weidezaunband ab, während ich die Pfosten stecke.»
Vielseitig arbeiten
Im Winter schichtet der Hofmitarbeiter unter anderem Brennholz oder sammelt nach dem Obstbaumschnitt die Äste zusammen. Im Frühling und Sommer hilft er Susanne Keiser manchmal im Garten. «Er arbeitet auch gern im Haus und in der Küche, macht seine Wäsche weitgehend selbst und hält sein Zimmer in Ordnung», ergänzt die Bäuerin. «Pirmin hat zudem ein gutes Gedächtnis: Er erinnert mich immer mal wieder an anstehende Termine. Und er schreibt Listen mit den Aufgaben, die zu erledigen sind.» Auf die Frage, ob es eine Arbeit gebe, die er nicht so gern mache, antwortet Pirmin Langenstein mit einem schüchternen Lächeln: «Die Kälber-Iglus misten.»
Pirmin Langenstein bleibt auch am Abend nach der Arbeit am liebsten auf dem Hof, einem Hobby frönt er nicht. Doch er telefoniert gern mit Bekannten und Familienmitgliedern oder mit dem LuB-Team. Oder er sieht Othmar Keiser bei der Arbeit zu, wenn dieser nochmals draussen aktiv wird. «Es ist Pirmin wichtig, dabei zu sein», weiss Susanne Keiser. Die Wochenenden verbringt er bei seiner Familie in seinem Heimatdorf am Fusse des Titlis.
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Regelmässige Besuche
Den Bauernfamilien bietet LuB sieben Weiterbildungstage pro Jahr zu betreuungsrelevanten Themen an, etwa zu Entwicklungspsychologie. «Für mich sind die Themen wie auch die Treffen mit anderen Bauernfamilien immer sehr bereichernd», sagt Susanne Keiser.
Eine Beratungsperson der Stiftung LuB besucht den Hof viermal im Jahr und fragt bei allen nach, ob etwas geklärt, besprochen oder verändert werden sollte. Auch Entwicklungsziele und Wünsche werden thematisiert. «Man weiss, man wird getragen, hat immer jemanden zur Ansprache», so Susanne Keiser. «Es kann sich nichts anstauen.» Wichtig sei auch, dass Geld kein alleiniger Grund sein dürfe, einen Mitarbeiter mit Beeinträchtigung auf dem Hof zu haben. «Das ist zwar ein willkommener Zustupf. Doch wir sind nicht davon abhängig. Sonst würde Druck entstehen.»
«Für uns ist es innerlich bereichernd, dass wir einem Menschen mit einer Beeinträchtigung auf unserem Hof in der realen Welt einen Platz bieten können», sagt Othmar Keiser. «Auf einem hochmodernen, digitalisierten Betrieb wäre das wohl schwieriger.»
Interview mit Susann Steiner, Geschäftsleiterin der Stiftung «Landwirtschaft und Behinderte» (LuB)
Die Stiftung Landwirtschaft und Behinderte (LuB) bringt seit 30 Jahren Menschen mit Beeinträchtigungen und Bauernfamilien zusammen. Susann Steiner erklärt im Interview, was die Platzierungen auf Landwirtschaftsbetrieben gerade in der heutigen Zeit auszeichnen.
Frau Steiner, die Stiftung «Landwirtschaft und Behinderte» (LuB) gibt es seit 30 Jahren. Was hat sich verändert?
Susann Steiner: Damals begann die Stiftung mit sieben Menschen mit Beeinträchtigungen und sieben Betreuerfamilien. Derzeit haben wir 94 Platzierungen und arbeiten mit rund 130 Landwirtschaftsbetrieben zusammen. Das LuB-Team zählt inzwischen 6,3 Vollzeitstellen, die Anforderungen und der administrative Aufwand sind steigend.
Findet die Stiftung genügend geeignete Bauernfamilien?
Wir sind zufrieden und machen bewusst nicht aktiv Werbung. Denn es melden sich auch so immer wieder interessierte Betreuungsfamilien, die von uns gehört haben. Das ist gut: Wenn mehr Betriebe zur Auswahl stehen, gibt das mehr Möglichkeiten für eine passgenaue Vermittlung. Wir vom LuB achten sehr darauf, dass die betreute Person zur Familie passt.[IMG 4]
Wohnen die LuB-Hofmitarbeitenden immer auf dem Landwirtschaftsbetrieb?
In den allermeisten Fällen schon. Denn die Plätze werden nicht über die Arbeit finanziert, sondern über das Wohnen. Einzig der Kanton Solothurn bewilligt und finanziert bisher das Angebot von Tagesstruktur im Rahmen der Stiftung LuB.
Sind soziale Dienstleistungen auf Höfen noch zeitgemäss?
Ja, es ist sogar ein Modell mit Zukunft. Denn es sind integrative, familiäre Plätze in einer «normalen» Umgebung. Durch die Vermittlung einer Person mit Beeinträchtigung kann sehr individuell betreut werden. Sie entsprechen somit der UN-Behindertenrechtskonvention.
Welche Höfe sind für Platzierungen geeignet?
Es müssen in der Familie stabile Verhältnisse bestehen. Auf dem Landwirtschaftsbetrieb sollen offene, lebensbejahende und geduldige Menschen leben, die das Herz am rechten Fleck haben. Alle müssen mit der Platzierung einverstanden sein. Nicht zuletzt muss die Bauernfamilie genügend Zeit haben und nicht schon am Anschlag sein. Wer nur aus finanziellen Gründen soziale Dienstleistungen anbieten möchte, sollte sich für einen anderen Betriebszweig entscheiden. Geduld und Humor können auch nicht schaden.
Für wen ist eine Platzierung auf einem Landwirtschaftsbetrieb geeignet?
Für Menschen mit Beeinträchtigungen im erwerbsfähigen Alter, die körperlich und kognitiv in der Lage sind, in der Landwirtschaft mitzuarbeiten. Interesse und Motivation sind ebenfalls Voraussetzungen. Zudem müssen die Frauen und Männer bereit und in der Lage sein, sich in den Familienalltag zu integrieren. Eine weitere Voraussetzung ist eine IV-Rente.
Interview Cornelia von Däniken
Website der Stiftung LuB: www.lub.ch