Zusammen mit meinen fünf Brüdern schaute ich Fotos von früher an. Dabei musste ich an ein Ereignis aus meiner Kindheit denken. Vergessen kann ich den Vorfall nicht, denn er trug mir zwei drei Zentimeter lange Narben am rechten Bein ein.
Ich ging noch nicht in die Schule, Kindergarten hatten wir damals in Amden SG keinen. Wir mussten zu dritt mit Vater auf die Alp zum «Wildheuen», er mähte, wir rechten das Heu zusammen. Zwischendurch gab es Lindenblütentee aus der Thermosflasche zu trinken und ein Stück Brot. Die «Sägäzä», wie wir das Werkzeug nannten, lehnte an einer Wand der Alphütte. Als ich dort vorbei ging, kippte sie, also die Sense, und, weiss der Gugger, wie es passierte, ich hatte zwei Schnitte im Unterbein. Es blutete wie verrückt und schmerzte noch mehr.
Schnaps und ein Kräuterbad
Jammern durfte ich nicht. Es gab in der Hütte kein Verbandsmaterial. Hingegen eine Flasche von Grossvaters selbst gebranntem Schnaps. Daraus wurde über die Wunde geleert. Wenn ich das schreibe, tut es mir heute noch weh. Ich habe geschrien und bin dafür ausgeschimpft worden. Eine Wehleidige sei ich, dabei sei ich die Älteste und sollte ein gutes Beispiel sein. Nachdem der Vater einen Lumpen um die Wunde gebunden hatte, gingen wir nach Hause, mit dem Einachser. Die Ladefläche war belegt mit Heu, aber ich durfte zeitweise aufsitzen. Welches Privileg, denn meistens gingen wir neben der Knattermaschine eine Stunde zu Fuss.
Als Mutter daheim die Bescherung sah, richtete sie ein Kräuterbad her in einem Zuber, in den ich steigen musste. Am helllichten Tag blinkten alle Sterne am Himmel. Dann strich Vater Arnikaschnaps ein und das war das Ende der Prozedur. Gemäss Pfarrer Johann Künzle, der früher Kaplan war in Amden (mein Grossvater ging zu ihm in den «Katechismus») würde das rasch heilen, hatten die Eltern im grossen Kräuterbuch gelesen, das sie stets aus dem Bücherregal zogen, wenn etwas passiert war.
Ein Aufenthalt im Spital
Dank meines fortgeschrittenen Alters kann ich Geschichten erzählen, welche heute undenkbar sind. Es würden wahrscheinlich Care Teams, Ärztinnen und Therapeuten und Psychologinnen aufgeboten für das arme geplagte Kind. Und seine Geschwister, die so etwas mitanhören mussten. Oben auf dem Berg versuchten alle Familien, sich selbst und einander zu helfen. Der Hausarzt praktizierte in Weesen am Walensee und machte sporadisch Hausbesuche in unserem Dorf. In strengen Wintern waren wir auf 1000 Meter und höher nachts von der Umwelt abgeschnitten.
Die nächsten Spitäler lagen in Walenstadt und in Uznach. Wenn uns Vater wegen eines Eingriffs ins Spital bringen musste, fuhren wir mit dem Zug. Um die Mandeln entfernen zu lassen, als ich in die zweite Klasse ging, musste ich fünf Tage im Spital bleiben. In dieser Zeit hörte ich nichts von den Eltern. Sie hatten weder Zeit noch Geld, zu telefonieren oder mich zu besuchen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es langweilig war. Schliesslich waren wir mindestens zu zehnt in einem Krankenzimmer. Zum Zeitvertreib sang ich Lieder. Wie ich es daheim gelernt hatte. Wenn wir nicht beteten, waren wir am Singen.