Elisa Weber sitzt nur halb im Schatten an diesem heissen Spätsommertag. «Kein Problem», lacht die junge Frau, «in Argentinien sind über 40 Grad im Sommer normal.» Bäuerin Helena Wettstein räumt die letzte Schüssel vom Mittagstisch, dann setzt auch sie sich dazu. Es herrscht gerade Hochbetrieb auf dem Birkenhof in Remetschwil, Mais wird einsiliert, die Essenden kommen etappenweise.
Elisa hat für neun Personen gekocht, Spaghetti mit Tomatensauce, Plätzli, verschiedene Salate.
Ein Tattoo für die Schweiz
Vor anderthalb Monaten ist die 18-Jährige aus Carrodilla, Luján de Cuyo, einem Ort südlich der Stadt Mendoza, in die Schweiz gekommen. Im August ist sie in das bäuerlich-hauswirtschaftliche Zwischenjahr Agriprakti gestartet.
Zur Erklärung, wie es dazu gekommen ist, zeigt sie erst mal ein Tattoo auf ihrem Unterarm: Berggipfel ragen in den Himmel hinein, die hat sie sich zwei Wochen nach ihrer Ankunft stechen lassen, ein Symbol für die Schweiz.
Dieses Land hatte die argentinisch-schweizerische Doppelbürgerin seit Langem fasziniert, ohne dass sie je da gewesen wäre. Ihre Grosseltern stammen von hier, leben aber seit Langem im Ausland. Elisas Vater zog vor 28 Jahren nach Argentinien, auch er zuerst als Praktikant für ein Jahr. Dann übernahm er den Job als Kellermeister und gründete eine Familie.
Das ist Agriprakti
Das Hauswirtschaftsjahr Agriprakti ist ein Angebot des Luzerner Bäuerinnen- und Bauernverbands für Jugendliche, in der Regel Schulabgänger(innen) der neunten Klasse, die sich auf den Einstieg ins Berufsleben vorbereiten. Das Praktikum dauert ein Jahr. Vier Tage pro Woche verbringen die Jugendlichen auf einem Bauernhof und arbeiten mehrheitlich im hauswirtschaftlichen Bereich. Einen Tag pro Woche findet der Schulunterricht in Sursee statt. Das Schulgeld beträgt 4900 Franken. Den Praktikant(innen) wird ein monatlicher Lohn von 473 Franken ausbezahlt, zusätzlich erhalten sie Kost und Logis auf dem Betrieb.
In Argentinien ist das Leben wegen der starken Inflation enorm teuer geworden. Das Studium für Elisas Traumberuf Veterinärmedizinerin ist kaum erschwinglich, wie auch viele andere Ausbildungen. Darum streckte der Vater die Fühler aus nach Möglichkeiten in der Schweiz. Er fand via Berufsberatung und Internet das Agriprakti-Angebot inklusive Lehrbetriebe und meldete sich per E-Mail bei Familie Wettstein. Elisa kam eine Woche zum Schnuppern. «Mein Herz hat gesagt: Das ist es», sagt sie mit einem Lächeln. Es gefällt ihr auf dem Bauernhof, sie liebt Tiere.
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Agriprakti ist für sie die Möglichkeit, in der Schweiz Fuss zu fassen. Ihre ganze Familie hat sich zusammengetan, um ihr das zu ermöglichen, die Grosseltern bezahlten beispielsweise das Generalabonnement, die Tante organisierte die Wohnmöglichkeit für das Wochenende.
«Ich bin ein offener Mensch», sagt Elisa, sie wolle Erfahrungen sammeln und lernen. Die Unterhaltung auf Deutsch funktioniert gut, sogar Schweizerdeutsch geht schon ein wenig, zum Beweis sagt sie akzentfrei «Chuchichäschtli». Die Menschen in der Schweiz seien reservierter als in Argentinien, Kontakte knüpfen gehe hier nicht so einfach.
Klare Regeln in der Schule
Weitere Unterschiede zu ihrem Heimatland schätzt sie sehr: «Hier ist alles so sauber, die Strassen sind gepflegt, das Trinkwasser ist gut und billig, es hat immer Strom», zählt sie auf. Die Schweizer Lehrpersonen seien strenger, das finde sie ebenfalls positiv, und die moderne Infrastruktur in den Schulzimmern sei sowieso super. «Ich liebe es, in Helenas Küche zu kochen», fügt sie vergnügt an, «alle diese Maschinen!». Was Bäuerin Helena Wettstein dann aufzählt, tönt für hiesige Verhältnisse keineswegs überrissen. Kennwood-Küchenmaschine, Stabmixer, Fritteuse, Eierkocher. «Und die Popcorn-Maschine», ergänzt Elisa, so etwas gebe es in Argentinien nur in den Villen der reichen Leute.
Auch die Teflon-Bratpfanne findet sie super. Darin lässt sich gut Fleisch anbraten. Zu den Betriebszweigen auf dem Birkenhof gehören neben Ackerbau und Lohnarbeiten auch Muni- und Kälbermast. Helena Wettstein rechnet beim Vakuumieren mit 150 bis 200 Gramm Fleisch pro Person, «das reicht?», staunt Elisa jeweils angesichts dieser Portionen. Beim Asado Argentino, einer Grillmahlzeit, werde pro Person 1 Kilo Fleisch eingeplant, erzählt sie aus ihrer Heimat.
Von viel Fleisch bis vegan
Das Gegenstück dazu erlebt sie an den Wochenenden: Diese verbringt sie jeweils bei einem Cousin in Steffisburg, der sich vegan ernährt. «Kein Problem», sagt Elisa auch dazu, sie könne sich gut anpassen. Offen und flexibel ist auch ihre Lehrmeisterin Helena Wettstein. Die Bäuerin mit Fachausweis führt den Haushalt ihrer Familie mit den vier Kindern und einem Lernenden, sie arbeitet Teilzeit als Religionslehrerin und züchtet Bernersennenhunde. Sie ist eine erfahrene Ausbildnerin, über ein Dutzend Praktikantinnen aus unterschiedlichen Programmen hat sie schon angeleitet.
Nachdem die Bäuerin die Mail von Elisas Vater bekommen hatte, winkte sie angesichts der Herausforderungen nicht ab, sondern suchte nach Lösungen. Dafür hat sie mit Elisa eine Praktikantin, die schon sehr selbstständig arbeiten kann. «Ihr muss ich nicht erklären, wie man Zwiebeln schneidet», und sie sei auch sehr motiviert.
Kochen, Reinigen, Gartenarbeit, Produkteverarbeitung und die Kleintiere gehören im Agriprakti-Jahr zu Elisas Arbeitsfeldern. Wo sie nächsten Sommer stehen möchte, kann sie genau sagen: Eine Lehrstelle als tiermedizinische Praxisassistentin ist ihr Traum.