Der Bauer vom Nachbarhof, der vor Überlastung das Lächeln verlernt hat. Die Lernende, deren Unterarme von Rasierklingen-Narben gezeichnet sind. Der Mitarbeiter, der bei jedem lauten Geräusch zusammenzuckt. Psychische Probleme sind allgegenwärtig, auch in der Landwirtschaft. Viele würden gern helfen. Aber wie? Die meisten fühlen sich hilflos und überfordert. Sie haben zudem Angst, etwas falsch zu machen.
Hier setzen die Ensa Kurse, ein Programm der Stiftung Pro Mente Sana an. Die Stiftung ist eine schweizweit tätige und unabhängige Organisation für psychische Gesundheit. «In den Ensa Kursen bilden wir Laien zu Ersthelfenden aus», erklärt Chantal Hofstetter von Pro Mente Sana. Dahinter steckt dieselbe Idee, wie bei den Nothelfer-Kursen, die viele aus der Zeit der Fahrprüfung kennen.
Globale Bewegung
Studien zur Wirksamkeit
Die Wirksamkeit von Erste-Hilfe-Kursen für psychische Gesundheit wurde weltweit in zahlreichen Studien nachgewiesen. Seit 2023 gibt es auch eine Studie für die Schweiz. Die Ergebnisse zeigen positive Effekte der Ensa-Erste-Hilfe-Kurse auf das Grundwissen der Kursteilnehmenden und deren Vertrauen in sich selbst, Betroffenen zu helfen. Zudem stellte man eine reduzierte Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Belastungen fest. So trauten sich bei der ersten Messung weniger als 25 Prozent der Teilnehmenden zu, einer Person mit einer psychischen Erkrankung zu helfen. Dieser Anteil stieg unter den Kursteilnehmenden nach drei Monaten auf 75 Prozent und nach einem Jahr auf 97 Prozent an.
Ensa ist die Schweizer Version des australischen Programms «Mental Health First Aid» (erste Hilfe für psychische Gesundheit), eine mittlerweile globale Bewegung in 29 Ländern und mit acht Millionen Ersthelferinnen und -helfern. Das Wort «Ensa» stammt aus einer der über 300 Sprachen der australischen Ureinwohner und bedeutet «Antwort».
In der Schweiz haben bisher rund 31000 Menschen an den Kursen teilgenommen: Angehörige, Betroffene und Interessierte. Regelmässig führt Pro Mente Sana auch Kurse für Betriebe durch. «Es setzt beim Zwischenmenschlichen an», sagt Chantal Hofstetter. Die Psychologin ist bei Pro Mente Sana für die Ensa Kurse zuständig. «Egal ob im Freundeskreis, der Familie oder bei Arbeitskolleinnen und -kollegen. Denn jede zweite Person ist in ihrem Leben mindestens einmal von einer psychischen Erkrankung betroffen.» Zu diesen Erkrankungen gehören etwa Abhängigkeits- und Angsterkrankungen, Psychosen und Depression. «Hilfe ist dann angezeigt, wenn ein subjektiver Leidensdruck entsteht und/oder der Alltag der Betroffenen beeinträchtigt wird – zum Beispiel auf der Arbeit oder in sozialen Beziehungen.»
«ROGER» hilft
In den zwölf Kursstunden lernen die Laien, erste Hilfe zu leisten, wenn Personen in ihrem privaten und/oder beruflichen Umfeld psychische Probleme oder Krisen durchleben. «Sie sprechen das Thema an und unterstützen, bis professionelle Hilfe übernimmt», erklärt Chantal Hofstetter. Im Theorieteil wird zunächst vermittelt, wie man psychische Belastungen erkennt. In Rollenspielen üben sie dann ganz praktisch, wie sie mit dem oder der Betroffenen darüber sprechen können. Dabei hilft ihnen die fünf Schritte von «ROGER».
Mit dem «ROGER»-Prinzip wird bei jedem Störungsbild gelernt, wie man Menschen mit psychischen Problemen ansprechen und ihnen helfen kann:
- R steht für Reagieren, wie jemanden ansprechen und beistehen
- O für offen und wertfrei zuhören und kommunizieren
- G für «gib Unterstützung und Information»
- E für Ermutigen zu professioneller Hilfe
- R für reaktivieren der Ressourcen
Dazu lernen die Teilnehmenden, wie man sich in Krisensituationen verhalten kann, zum Beispiel bei Suizidalität oder Panikattacken. «Vor dem Kurs trauen sich die meisten nicht zu, das Thema anzusprechen», sagt Chantal Hofstetter. «Nach dem Kurs schon. Das Erlernte gibt den Teilnehmenden Sicherheit, es bringt ihnen was im Alltag.» Etwa, indem man jemanden in einer Krise direkt fragt: «Hast du Suizidgedanken?»
Dem Bauchgefühl trauen
Doch wie merkt man als Ersthelferin oder als Ersthelfer, ob man ein Thema ansprechen soll? «Es fängt oft mit einem unguten Bauchgefühl an», weiss Chantal Hofstetter. «Man lernt im Kurs einzuschätzen, wann man sich Sorgen machen und handeln muss.» Der wichtigste Teil bei «ROGER» sei das Reagieren, das ins-Gespräch-kommen. «Dann hat mal schon viel gemacht. Es signalisiert: Du bist mir wichtig.»
Aber was, wenn das Gegenüber das Thema abwehrt? «Das ist ok, man sollte niemanden drängen oder anfangen zu moralisieren. Man bleibt offen und unvoreingenommen, das Gespräch ist ein Angebot. Doch man hat ein Zeichen gesetzt, dass man mit einem darüber reden kann. «Das ist so wichtig, weil psychischen Erkrankungen noch immer ein grosses Stigma anhaften.»
Freundliche Hartnäckigkeit
Manchmal brauche es freundliche Hartnäckigkeit. «Als Ersthelfende haben wir nicht die Verantwortung für den anderen, wir stellen auch keine Diagnosen und spielen nicht Laien-Therapeuten.», stellt Chantal Hofstetter klar. «Aber wir können eine Brücke sein.» Denn viele Menschen in psychischen Krisen wissen nicht, was für Unterstützungsangebote es gibt. Zudem fehlt Betroffenen etwa bei depressiven Erkrankungen oft der Antrieb, selbst ins Handeln zu kommen. Mit Ensa betreibe man zudem Früherkennung. «Werden erste Anzeichen möglichst früh erkannt, ergeben sich oft weniger lange und schwere Krankheitsverläufe.»
Und was, wenn sich der Ersthelfer oder die Ersthelferin vor Ort von der Situation überfordert fühlt? «Man sollte nur ein Gespräch anbieten, wenn man sich dazu in der Lage fühlt. Man darf eine Grenze ziehen, wenn man merkt, dass es einem zu viel wird», betont Chantal Hofstetter. Manchmal sei man auch einfach nicht die richtige Person und tue besser daran, unter Wahrung der Vertraulichkeit jemand anderen beizuziehen. In Akut- oder Notsituationen habe man zwar eine generelle Verantwortung als Bürgerin und Bürger, aber die eigene Sicherheit gehe immer vor.
Weitere Informationen: www.ensa.swiss
Aus der Praxis
Beim Üben helfen den Teilnehmenden in den Ensa-Kursen sogenannte «Fall-Vignetten» mit konkreten Beispielen, auch aus der Landwirtschaft. «Du bist die Ehefrau von André», heisst es etwa auf einer der Karten. «Seit mehreren Monaten schon bemerkst du, dass irgendetwas nicht stimmt.» Die Rechnungen stapeln sich und André wirkt deprimiert und zieht sich immer mehr zurück. Er kommt am Morgen kaum aus dem Bett und reagiert auf alles, was du sagst, gereizt.»
«In den Turnverein geht er schon seit Wochen nicht mehr. Am Abend bleibt er ungewöhnlich lange im Stall. Nach einem weiteren Streit beschliesst du, ihn auf das veränderte Verhalten anzusprechen. Er wehrt zunächst ab und sagt, dieses psychologische Getue sei nichts für ihn. Er wisse einfach nicht mehr, wo ihm vor lauter Arbeit der Kopf stehe. Und letzte Woche sei er in der Stadt angegangen worden, dass er das Trinkwasser mit Pestiziden vergifte. Er wisse nicht mehr, wie das alles weitergehen solle und wolle nur noch, dass das alles aufhöre.»