«Vor 17 Jahren mussten wir uns entscheiden: Entweder kehrt Karin zurück zu ihrer ursprünglichen beruflichen Tätigkeit, oder wir konzentrieren uns auf die Betreuungsarbeit von Personen, die zurück in den Alltag finden möchten und Unterstützung dabei brauchen», erinnert sich Hanspeter Röthlisberger zurück an die Anfänge ihrer Zeit als bäuerliche Gastfamilie, die für Personen in schwierigen Lebenssituationen einen Platz auf dem Betrieb anbietet. «Der Anfang war hart», sagt der Landwirt aus dem Emmental. «Die Geschichten, die man hört und hier auch selber erlebt, lassen einem manchmal die Haare zu Berge stehen», sagt die ruhig wirkende Bäuerin Karin Röthlisberger. «Diese Sachen passieren alle hier in der Schweiz.»

Wöchentliche Begleitung auf dem Betrieb

Weil der Milchwirtschafts- und Ackerbaubetrieb der Familie Röthlisberger in Walkringen BE den nötigen Platz und die geregelte Tagesstruktur dazu bietet, beschlossen sie, sich als Gastfamilie zur Verfügung zu stellen. Seither bieten sie für jeweils ein bis zwei Personen einen «sicheren Hafen», wie sie ihren Betrieb bezeichnen. Einmal wöchentlich besucht ein Betreuer oder eine Betreuerin der Organisation Projekt Alp die Familie und bespricht die aktuelle Situation zuerst mit der Bauernfamilie und danach zusammen mit dem Klient. Bei diesem Gespräch werden die gesteckten Ziele besprochen und geschaut, wie es weitergehen soll. «Wir sprechen zum Beispiel darüber, wie wir helfen können, damit der Klient seine Ziele erreichen kann», erklärt Hanspeter Röthlisberger die Rolle der Bauernfamilie in dieser Konstellation.

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Ein Betrieb als Kleinheim

Weil der Betrieb der Familie Röthlisberger als Kleinheim gilt, dürfen sie maximal drei Personen auf ihrem gemischten Betrieb in Walkringen beherbergen. Dabei obliegt es der Organisation von Projekt Alp, wer mit wem auf demselben Betrieb lebt.

Diese Angliederung an eine professionelle Organisation sei als Gastfamilie nicht Pflicht, erklärt Hanspeter Röthlisberger. Aber für sie sei es ein grosser Mehrwert, diese doch grosse Verantwortung der Betreuung auf mehrere Schultern aufzuteilen. Denn obwohl die Klienten therapiert auf die Betriebe kämen, schätzten sie die professionelle Begleitung der Sozialarbeitenden, sagt das Betriebsleiterehepaar. «Dank der Partnerschaft zu Institutionen wie Wobe oder Projekt Alp können wir bei einem psychologischen Notfall auch um Mitternacht und am Sonntag den Pikettdienst anrufen und haben innert kürzester Zeit professionelle Hilfe», sagt Hanspeter Röthlisberger. Denn die Ausbildung im sozialen oder psychologischen Bereich sei keine Voraussetzung dafür, Personen in schwierigen Lebenssituationen auf dem Betrieb zu beschäftigen. «Grundsätzlich beherbergen wir niemanden, der noch voll in der Therapie steckt. Wir helfen ihnen, nach einer Therapie oder einem Entzug zurück ins Leben zu finden.»

Karin Röthlisberger hat sich vor zehn Jahren dennoch für eine Weiterbildung in diesem Fachgebiet entschieden. Während zweier Jahre besuchte sie die Ausbildung zur Betreuung im ländlichen Raum, auch ABL genannt. «Ich würde diese Ausbildung jedem empfehlen», sagt die Bäuerin, während sie sich an die Kurstage erinnert. «Es war schon nur wertvoll, sich unter Gleichgesinnten über schwierige Situationen austauschen zu können», so Röthlisberger.

Betriebsspiegel Familie Röthlisberger
Karin und Hanspeter Röthlisberger mit Cedric, Joël und Pascal
Ort: Walkringen BE
Fläche: 28 ha LN, 6 ha Wald, 10 ha Kunstwiese, 10 ha offene Ackerfläche (Raps, Weizen, Gerste, Urdinkel, Mais)
Arbeitskräfte: Betriebsleiterpaar
Viehbestand: 24 Milchkühe, 14 Rinder
Milch: IP-Suisse-Wiesenmilch

Betreuung von Montag bis Freitag

Viel wichtiger als einen Titel zu tragen sei es, Herzblut und Geduld zu haben, sagt das Ehepaar im Einklang. «Die Klienten sind keine billigen Arbeitskräfte, sondern Klienten. Trotzdem sind wir kein Hotel», betont Hanspeter Röthlisberger. Jeder Klient kümmert sich um sein Zimmer und um die Reinhaltung der Räumlichkeiten. Die Aufgaben der Personen, die sich in einer persönlichen Lebenskrise befinden, sind sehr unterschiedlich und werden im Fall von Röthlisbergers durch Projekt Alp empfohlen.

Bei Röthlisbergers erledigen die Klienten von Montag bis Freitag leichte Arbeiten im Stall, auf dem Feld oder auf dem Hof. «Die Milchproduktion ist aber unser Haupteinkommen, darum füttern und melken wir selber», so der Landwirt. Dadurch ergebe sich eine klare Tagesstruktur, welche für Personen in einer Krisensituation sehr hilfreich sein könne, wie die Organisation auf ihrer Website schreibt. «Das intakte Familienbild hilft den Klienten ebenfalls», wie der Landwirt feststellt.

Ein etwas anderer Nebenerwerb

Für die fünfköpfige Familie bedeutet die Arbeit als Gastfamilie einen Zustupf in die Betriebs- und Haushaltskasse. Die Ansätze sind je nach Herkunftskanton und Auftraggeber (Jugend, Sucht oder Psychiatrie) unterschiedlich. Finanziert wird ein Aufenthalt im Jugendbereich vom kantonalen Sozialamt oder auch von der Invalidenversicherung. Eine mögliche Mitfinanzierung der Eltern wird anhand des steuerlichen Einkommens und Vermögens geprüft und festgelegt.

Trotz einem grossen Herz für Fremde mussten Röthlisbergers, während ihre eigenen Kinder klein waren, eine Entscheidung gegen Jugendliche in Not treffen. Die Konstellation, mit ihnen auf engstem Raum mit der eigenen Familie zu leben, sei problematisch geworden, erinnern sie sich zurück. «Damals mussten wir für eine Phase die Beherbergung von Jugendlichen in Krisensituationen unterbrechen und konzentrierten uns nur noch auf Erwachsene, die aus der Bahn geworfen wurden – nach der Schulzeit der Kinder konnten wir dann aber auch Jugendliche wieder aufnehmen», so Röthlisberger.

Die beiden erfüllt es mit Stolz und Freude, wenn sie einer Person zurück in den Alltag verhelfen können.

«Man darf aber nicht enttäuscht sein, wenn es auch mal nicht klappt»

sagt der Landwirt.

Denn es käme vor, dass eine Platzierung nicht funktioniere. «Manchmal muss man den Schlussstrich ziehen – und manchmal kommt es nicht einmal zu einem Abschluss.»

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Eine Gastfamilie zu sein und Personen in einer Krise 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche auf dem Betrieb zu haben, ist nicht immer nur Friede, Freude, Eierkuchen. «Wir teilen die Küche, das Wohnzimmer und manchmal sogar das Badezimmer», wie Hanspeter Röthlisberger die Situation zu Hause schildert. Auch die Wochenendgestaltung sehe für eine Gastfamilie natürlich komplett anders aus. Dennoch überwiege das Schöne: «Wir verstehen uns als Sprungbrett für diese Personen, aber auch für Betagte sind wir ein Ort der Ruhe, indem wir die geforderte Unterstützung so gut es geht bieten können.» Auf diesen Punkt angesprochen, sagen Röthlisbergers: «Durch die Betreuungsarbeit auf dem Gastbetrieb entlasten wir die Altersheime und auch die Privatpersonen, die viel Geld für den Aufenthalt im Altersheim zahlen.»

Die Organisation Projekt Alp
Bauernfamilien in den Kantonen Bern, Solothurn, Freiburg oder Luzern können sich bei Interesse bei der Organisation Projekt Alp melden. Daraufhin besucht die Institution die potenzielle Gastfamilie für ein unverbindliches Infogespräch. Damit eine Zusammenarbeit erfolgen kann, muss neben einer schriftlichen Bewerbung ein Antrag auf eine Pflegeplatzbewilligung gestellt werden.

Für Unterkunft, Verpflegung und Betreuung werden die Gastfamilien finanziell entschädigt. Wichtige Voraussetzungen sind unter anderem ein eigenes Zimmer für die Klienten und die Bereitschaft, einen Menschen in einer Krisensituation zu begleiten und mit Projekt Alp zusammenzuarbeiten. Die Gastfamilie wird in ihrer Arbeit mit der Klientin, dem Klienten von Projekt Alp professionell unterstützt und begleitet.

Tel.: 031 721 80 08
Weitere Informationen zur Organisation finden Sie hier.

Ähnliche Angebote finden Sie auf der Webseite der Wobe, Stiftung Lub und Carefarming Schweiz