Es war Zufall, dass Mutter und Tochter Andrea und Berenice Wicki diesen Juli gleichzeitig einen Auftritt an der Liebegg hatten. An der Schlussfeier der Aargauer Landwirtinnen und Landwirte nahm die eine ihr Fähigkeitszeugnis in Empfang, die andere stand als Festrednerin auf der Bühne. Das Ganze allerdings andersherum, als man denken würde.
Die 55-jährige Mutter Andrea schloss die Ausbildung ab, die 20-jährige Tochter Berenice, Snowboarderin mit Olympia-Diplom, sprach über ihren Weg zum Erfolg.
Die Tränen sind geflossen
Der emotionalste Moment für die Mutter war darum nicht die Zeugnisübergabe, sondern die Tochter am Rednerpult. «Da liefen mir die Tränen runter.» Ein Mitglied der Schulkommission und Bekannter der Familie Wicki hatte die junge Sportlerin als Rednerin angefragt und erst dabei erfahren, dass ihre Mutter die zweijährige Ausbildung an der Liebegg absolvierte.
Diese Familie macht neugierig. Andrea Wicki räumt spontan einen Termin für ein Gespräch ein, obwohl ihr alles andere als langweilig ist. «Ich gebe sieben Tage in der Woche Vollgas», sagt die sportliche Frau, die oft und herzhaft lacht. Sie wirkt nicht angestrengt, sondern einfach sehr fit. Morgens arbeitet sie in ihrem Reitstall in Birmenstorf mit den eigenen und mit Ausbildungspferden und unterrichtet Pensionäre. Am Nachmittag geht sie in ihre Praxis als Physio- und Sportphysiotherapeutin.
Und irgendwann am Abend fährt sie nach Hause. Ihr Mann – er ist Rechtsanwalt – arbeite genauso viel, erzählt sie. Wer zuerst zu Hause sei, fange schon mal zu kochen an. Manchmal trudelt noch eines der drei erwachsenen Kinder ein, alle derzeit im Studium und mit Wohnsitz mehrheitlich auswärts.
Bestnote bei der Betriebsvorstellung
Andrea Wicki begrüsst zur Besichtigung in ihrem Reitstall St. Georg, eine gepflegte und familiäre Anlage. Der 36-jährige Wallach Chantilly trottet frei auf dem Areal herum, altershalber darf er das. Ein Mädchen fragt nach Arbeit. Sie kommt aus der Ukraine, ist seit drei Monaten in der Schweiz und liebt Pferde. Die Chefin versorgt sie mit einem Job, dann geht es auf einen Hofrundgang. Neun Pensionspferde wohnen hier, dazu fünf eigene und zwei in Beritt. Eine Reithalle, Aussenreitplätze und ein Bewegungskarussell gehören zur Infrastruktur.
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«Ein Stallplatz bei uns ist teuer», sagt die Betriebsleiterin. «Ein Geschäft mache ich trotzdem nicht.» 260 Stellenprozente sind für die Stallarbeit eingesetzt, jegliche Spezialwünsche der Pferdebesitzerinnen werden erfüllt.
Beim Betriebsbesuch für den Lehrabschluss als Landwirtin holte sich Andrea Wicki die Maximalnote. Kein Wunder, über Pferde muss man ihr nicht viel erzählen. Sie züchtet Trakehner, reitet von klein auf, war international auf Grand-Prix-Niveau unterwegs und Mitglied im Nationalkader Dressurreiten. Heute startet sie noch national an Turnieren.
Den Betrieb übernahm sie vor 14 Jahren aus der Erbschaft einer entfernten Verwandten, er liegt in einer Spezialzone für Pferde. Angegliedert sind 7,5 Hektaren Landwirtschaftsland, die als Weiden und zum Heuen genutzt werden. Dieses Grünland mit vielen Hecken und Bäumen möchte die Besitzerin demnächst in Biodiversitätsfläche der Qualitätsstufe II überführen.
Zeit für die grosse Frage
Dann wird es Zeit für ein Glas Wasser im Schatten und die grosse Frage: Warum hat die viel beschäftigte Frau mit 55 Jahren die Ausbildung zur Landwirtin gemacht? «Ich wollte wissen, wie das wirklich ist», lautet die schlichte Antwort. Dann wird der Ton energisch: «Bauer ist heute ja fast ein Schimpfwort. Aber was essen wir denn alle? Ich wollte erfahren, worum es bei diesem Beruf geht und die Menschen kennenlernen.»
Und so setzte sie sich eines Abends mit ihrem Mann bei einem Glas Wein zusammen – auch er übrigens ein Sportler, sie hat den Segelweltmeister an der Olympiade in Seoul, Südkorea, kennengelernt – und füllte das Gesuch als Zweitausbildnerin aus, ohne so richtig mit einer Bewilligung zu rechnen. Ein paar Tage später dann die Überraschung: «In ein paar Wochen fange ich mit der Ausbildung als Landwirtin an.»
Unter den Landwirt(innen) grosse Kameradschaft erlebt
Dank guten Mitarbeitenden in der Praxis und im Stall habe das funktioniert, schaut Andrea Wicki zurück. Sie drängte ihr volles Programm noch mehr zusammen und fuhr mit gemischten Gefühlen an den ersten Schultag. «Ich habe mich schon gefragt, wie das kommt, wenn ich da als Grosi in die Klasse sitze.» Kein Problem, weiss sie heute: Sie habe schon etliche Aus- und Weiterbildungen gemacht, aber nirgendwo sonst eine solche Kameradschaft und Hilfsbereitschaft erlebt. Über die war sie vor allem im ersten Jahr froh – alles war Neuland. Im zweiten Jahr konnte sie dann immer mehr Puzzleteile zusammenfügen. Sie verpasste keinen Schultag, in den Pausen löste sie Aufgaben, über Mittag ging sie joggen.
Jetzt sind die Schulbücher und Ordner in einer Zügelkiste verstaut, Andrea Wicki möchte sie einem Lehranfänger weitergeben. Wird ihr Rhythmus jetzt etwas ruhiger? Ja – jedenfalls zehn Tage lang. Eltern und Kinder fahren gemeinsam in die Ferien an den Strand. Aber herumliegen wird Familie Wicki nicht, Surfen steht auf dem Plan. Und danach bildet sich die frisch gebackene Landwirtin wieder weiter, diesmal in ihrem Erstberuf im Bereich Fitnesstraining.