«Psychische Gewalt ist schwerer zu erkennen als körperliche, da sie weniger sichtbar ist und keine blauen Flecken hinterlässt», sagt Tamara Parham, Leiterin Kommunikation und Partnerschaften bei Kinderschutz Schweiz.
Psychische Gewalt ist, wenn
- Kinder gedemütigt oder verletzt werden.
- Kindern häufig mit dem Verlassen oder anderen Folgen gedroht wird.
- das Kind angeschwiegen oder beim Sprechen nicht angesehen wird.
- Kinder ihre Freundinnen und Freunde nicht treffen dürfen und zu Hause isoliert werden.
- das Kind grossem Leistungsdruck ausgesetzt ist.
- Kinder elterliche Paargewalt miterleben.
Klima der Angst
«Wenn zu Hause Angst und Gewalt herrschen, leiden alle Familienmitglieder – besonders Kinder», hält Tamara Parham fest. Auch wenn die Gewalt nur zwischen den Erwachsenen stattfindet, nehme sie den Kindern «das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit». Sie erleben die Situation oft als bedrohlich und fühlen sich hilflos – und bräuchten Unterstützung, um die Situation zu verändern oder Hilfe zu holen. «Kinder tragen nie die Schuld an Gewalt zwischen Eltern, nur wissen sie das häufig nicht.» Die Aufgabe von Eltern sei es, Kindern zu ermöglichen, Kind zu sein.
Auch wenn sie keine blauen Flecken hinterlässt, kann psychische Gewalt – vor allem, wenn sie regelmässig angewendet wird – «starke und möglicherweise lebenslange Auswirkungen für die betroffenen Kinder haben, bis ins Erwachsenenalter», so Tamara Parham. Dazu zählen unter anderem: ein stark erhöhtes Risiko für Depressionen, Lernstörungen, aggressives und gewalttätiges Verhalten oder Bindungsstörungen (siehe Tabelle).
Jedes fünfte Kind
Die Studie zum Erziehungsverhalten von Eltern in der Schweiz der Universität Freiburg im Auftrag von Kinderschutz Schweiz zeigt, dass Gewalt in der Erziehung weiterhin Alltag ist in der Schweiz: Jedes fünfte Kind erfährt regelmässig psychische Gewalt (siehe «In Zahlen»). Und knapp jedes dritte Kind war bereits Zeuge psychischer Gewalt zwischen den Eltern. Dieselbe Studie zeigt auch, dass die Häufigkeit von psychischer Gewalt wieder zunimmt.
Dem will Kinderschutz Schweiz entgegenwirken und mit ihren Kampagnen Eltern, Sorgeberechtigte und die breite Öffentlichkeit sensibilisieren: «Mit Präventionsarbeit können wir Kinder schützen», hält Tamara Parham fest.
Die langjährige Kampagne der Stiftung zur gewaltfreien Erziehung «Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt» fokussierte sich im Herbst 2024 auf die psychische Gewalt, «da diese Gewaltform ebenso verbreitet ist wie die körperliche Gewalt, jedoch weniger sichtbar ist». Im Zentrum der Kampagne stehe nicht die Verurteilung, sondern das Sichtbarmachen, Enttabuisieren und Ernstnehmen. «Wir möchten ermöglichen, dass offen über Überforderung und Gewalt in der Erziehung gesprochen werden kann – ohne Schuldzuweisungen, aber mit dem klaren Ziel, Kinder besser zu schützen.»
Beispiele
Hier ein paar Beispiele, was psychische Gewalt gegenüber einem Kind sein kann:
- Mit Worten weh tun, heftig beschimpfen («Du bist so eine Enttäuschung!», «Aus dir wird nie etwas!»)
- Mit Schlägen drohen
- Drohen, wegzugehen und das Kind alleine zu lassen
- Dem Kind sagen oder zeigen, dass man es so nicht mehr gern hat («Du bist mir scheissegal!»)
- Erniedrigen oder lächerlich machen
- Das Kind für längere Zeit einsperren
- Sagen, dass das Kind zu anderen Eltern oder ins Heim gegeben wird.
Gesetzlich verankern
Auch politisch tut sich etwas. Am 13. September 2024 präsentierte der Bundesrat die Vorlage zur Umsetzung der Motion «Gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch (ZGB) verankern». Der Bundesrat anerkennt darin, dass nebst körperlicher Gewalt auch psychische Gewalt keinen Platz in der Erziehung haben darf. Der Ständerat wird voraussichtlich in der Herbst- oder Wintersession 2025 definitiv über den Vorschlag des Bundesrats abstimmen. Der Nationalrat hat an seiner Sondersession im Mai 2025 der Vorlage bereits zugestimmt. «Damit ist die längst überfällige gesetzliche Verankerung der gewaltfreien Erziehung endlich auf der Zielgeraden», zeigt sich Tamara Parham zufrieden.
Doch warum braucht es diese gesetzliche Verankerung überhaupt? «Erziehung ist Privatsache, aber Gewalt an Kindern nicht!», heisst es dazu bei Kinderschutz Schweiz. Die Verankerung im ZGB habe zivilrechtliche und auch gesellschaftliche Auswirkungen und sei ein starkes Signal. Eine klar geregelte rechtliche Situation unterstütze auch Fachpersonen, die mit Familien in Kontakt sind, bei denen es zu Gewalt in der Erziehung kommt.
Ignorieren nicht so schlimm?
So zeigte die Studie zum Erziehungsverhalten von Eltern in der Schweiz auch: Diese erachten Erziehungsmassnahmen mit psychischer Gewalt häufiger als gesetzlich erlaubt, als solche mit körperlicher. So gaben beispielsweise rund 32 Prozent der Befragten an, dass es erlaubt sei, das Kind über längere Zeit zu ignorieren – jedoch ist eine schallende Ohrfeige nur für 2 Prozent der Eltern ein gesetzeskonformes Verhalten.
Was rät man bei Kinderschutz Schweiz Eltern, die Grenzen setzen und konsequent sein wollen, ohne dabei in falsche Verhaltensmuster zu verfallen? «Dass der Familienalltag hektisch ist und es mal laut werden kann, ist normal», sagt Tamara Parham. Wenn Eltern ihr Kind beschimpft haben oder laut geworden sind, könnten sie sich beim Kind entschuldigen und erklären, weshalb es geschehen ist (z. B. «Ich hatte einen langen Tag, und ich konnte mich in der Situation nicht beruhigen»). «So kann das Kind das Geschehene einordnen und versteht, wie die Situation entstanden ist», erklärt die Fachfrau.
Kurse für Eltern
Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den eigenen Erziehungsvorstellungen und den damit verbundenen Erwartungen an die Kinder könne helfen, im Alltag gelassener zu bleiben. Hilfe kann man sich auch von aussen holen. Für Eltern bietet Kinderschutz Schweiz die Elternkurse von «Starke Eltern – Starke Kinder» an. Auch für Schulen, Vereine und Elternräte hat die Stiftung Veranstaltungen zum Thema gewaltfreie Erziehung im Programm.
«Kinder müssen in verlässlichen, von Vertrauen geprägten Beziehungen aufwachsen, um stark und unabhängig zu werden», hält Tamara Parham fest. Die Grundlage dafür bilden liebevolle Beziehungen zu Eltern und zu anderen Bezugspersonen, die «von Zuwendung, Vertrauen, Respekt und Verlässlichkeit geprägt sind.»
Informationen und Kursangebote
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In Zahlen
56 % der Eltern in der Schweiz üben psychische Gewalt aus
21 % regelmässig
35 % selten
Rund 30 % haben ihr Kind schon mit Worten verletzt oder stark beschimpft
Rund 1/4 der Eltern hat bereits mit Schlägen gedroht
Rund 10 % sagen ihrem Kind regelmässig, dass sie es nicht mehr gernhaben, wenn es nicht gehorcht