Auf den ersten Blick ist der Hof Flue in der Seeländer Gemeinde Grossaffoltern ein kleiner Bauernhof, wie viele andere auch. Die herbstliche Sonne lässt den nahen Wald in den tollsten Farben erscheinen. Auf der Wiese grasen Kühe, einige Schafe und Ziegen weiden neben dem Haus. Hinter dem Haus kräht ein Hahn. Der Unterschied besteht bei den Bewohnerinnen und Bewohnern. Die Genossenschaft Hofgemeinschaft Flue ist Wohn- und Arbeitsplatz für junge Menschen mit Lernschwierigkeiten.
Das ist der Hof Flue
Die Hofgemeinschaft Flue ist ein Wohn- und Ausbildungsort für bis zu sieben junge Frauen und Männer, die sich in einem geschützten Rahmen individuell entwickeln können, heisst es in einem Prospekt. Das Angebot richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten. Der stark strukturierte Tagesablauf bietet einen klaren und übersichtlichen Rahmen. Die vielfältigen Tätigkeiten in den drei Berufsfeldern Hauswirtschaft, Landwirtschaft und Betriebsunterhalt ermöglichen den Lernenden, ihre eigenen praktischen Fähigkeiten zu entwickeln. Das Ausbildungsangebot beinhaltet:
- Praktiker/in PrA Insos Hauswirtschaft
- Hauswirtschaftspraktiker/in EBA (1. Lehrjahr)
- Praktiker/in PrA Insos Landwirtschaft
- Agrarpraktiker/in EBA
- Praktiker/in PrA Insos Betriebsunterhalt (heilpädagogische Schule, Lyss)
Die Hofgemeinschaft Flue ist Mitglied von Insos Schweiz, dem nationalen Branchenverband der Dienstleistungsanbieter für Menschen mit Behinderung.
Jede und jeder ist ein Chef
Auch kein Betriebsleiter oder Betriebsleiterpaar managt den Betrieb. Auf der Flue gibt es ein Betriebsteam von fünf Personen. Alle sind gleichberechtigt, jede Person hat aber ihren eigenen Verantwortlichkeitsbereich. Dies erklärt Therese Stöckli, Mitbegründerin des Hofes und Leiterin Soziales, bei einem Rundgang über den Hof. «Es ist aber nicht immer einfach, keinen Chef zu haben», weiss Therese Stöckli und schmunzelt. Damit dies klappe, müsse vieles im Team besprochen werden. Auch Unangenehmes müsse angesprochen werden, was nicht immer einfach sei. Das Team trifft sich wöchentlich zu einer Sitzung. Während die Auszubildenden auf dem Hof leben, ist es bei den Betreuungspersonen andersrum. Sie alle leben ausserhalb. Jeden Abend und jedes Wochenende ist jedoch eine Betreuerin oder ein Betreuer vor Ort. Die Jugendlichen verbringen jeweils ein Wochenende pro Monat auf dem Hof, die anderen in ihrem Elternhaus.
Die Fähigkeiten und Selbstständigkeit fördern ist das Ziel
«Ziel des Betriebs ist es, die bestmögliche berufliche Entfaltung und Entwicklung der Erwerbsfähigkeit der jungen Frauen und Männer zu fördern», heisst es in einem Prospekt der Hofgemeinschaft. Die meisten von ihnen haben Lernschwierigkeiten in unterschiedlichem Ausmass, aufgrund einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung. Die grösste Herausforderung der Betreuer ist es, die Lernenden genau dort abzuholen, wo ihre Fähigkeiten sind. «Die jungen Menschen lesen lernen», wie es Therese Stöckli ausdrückt. Aber nicht nur das. Auch die Jugendlichen brauchen viel Zeit, vermeintlich einfache Zusammenhänge zu erkennen. Oftmals würden Sozial- und Selbstkompetenzen fehlen. Dies kann sich etwa darin äussern, dass eine auszubildende Person eine Arbeit nur dann richtig zu Ende führen kann, wenn eine Betreuungsperson ständig daneben steht.
Geduld ist gefragt, viel Geduld
«Das Auszubilden benötigt viel Zeit und auch Geduld», erzählt Therese Stöckli in ihrer ruhigen Art. Die Lernenden brauchen viele Routinearbeiten und klare Tagestrukturen. So sieht ein typischer Tagesablauf auf der Flue aus:
- 7 Uhr: Arbeitsbeginn, je nach Ausbildungsbereich: Stallarbeiten, Tiere versorgen, oder auch Frühstück machen, Blumen giessen, im Winter einfeuern.
- 8 Uhr: gemeinsames Frühstück
- 8.45 bis 9 Uhr: Besprechung der anstehenden Tagesarbeiten 12 Uhr: Mittagessen, ein kurzes Gespräch über die Nachmittagsarbeiten, Pause
- 14 Uhr: Nachmittagsarbeiten
- 16.15 bis 16.30 Zvieripause
- 18 Uhr: Abendessen und Feierabend
«Es ist wichtig, die Selbstständigkeit der Lernenden zu fördern», betont Therese Stöckli. Daher werden den Jugendlichen Ämtli übertragen, für die sie verantwortlich sind. Deren Ausführung müsse aber immer wieder kontrolliert werden. Das ständige Nachkontrollieren sei denn auch etwas vom Schwierigsten, gesteht die Betreuerin.
Die Rolle der Eltern ist wichtig
Die Tagesstruktur soll möglichst nahe an der des ersten Arbeitsmarktes sein. Ganz wichtig ist den Ausbildner(innen), dass die Lernenden ihre fixe Bezugsperson haben, mit der sie enger zusammenarbeiten und persönliche Anliegen besprechen können. Und ganz wichtig sei auch die enge Zusammenarbeit mit den Eltern. «Das zahlt sich schlussendlich aus», weiss Therese Stöckli aus Erfahrung. Die Genossenschaft Hofgemeinschaft Flue erhält für jede Lernende eine Monatspauschale von der Invalidenversicherung (IV). Weitere Einkünfte stammen aus dem Erlös des Fleischverkaufs an Private, der Direktvermarktung der Produkte an umliegende Läden und Hofläden, der extern ausgeführten Arbeitsaufträge und aus Spenden. Als juristische Person ist der Hof nicht direktzahlungsberechtigt. Die Jugendlichen wiederum erhalten einen Lohn.
Betriebsspiegel Hof Flue
Name: Hofgemeinschaft Flue
Ort: Grossaffoltern
Betriebsleitung: 5 Betreuer(innen), die alle gleichberechtigt sind. Die Verantwortungsbereiche sind klar aufgeteilt.
Mitarbeitende: 4 Mitarbeitende von der heilpädagogischen Schule, Lyss
Lernende: 3 Auszubildende junge Frauen
Betriebsart: nach Bio-Suisse-Richtlinien
Ackerfläche: rund 10 Hektaren plus etwas Wald
Tiere: 7 Mutterkühe, 2 Mutterschweine, ein paar Schafe, Ziegen und Hühner
Produkte: Futterbau, Kartoffeln, Gemüse, Getreide, Fleisch
Betriebszweige:
- Direktvermarktung von Fleisch, eingemachtem Gemüse, Dörrbohnen, Suppengemüse usw.
- Fixer externer Auftrag zur Pflege von Pferdeboxen im Dorf
- Abwartung heilpädagogische Schule, Lyss
Es gibt freie Plätze auf der Flue
Therese Stöckli bedauert, dass die Ausbildungsplätze nicht immer besetzt werden können. Heuer beispielsweise hätten sie mit drei Lernenden so wenige wie noch nie. Grund seien einerseits geburtenschwache Jahrgänge. Andererseits aber auch die Invalidenversicherung. Diese habe eine klare Zielsetzung, dass die versicherten Lernenden möglichst von Beginn weg ihrer Ausbildungszeit im ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, anstelle eines geschützten Rahmens. Als Reaktion auf die Unterbesetzung haben nun alle Ausbildner(innen) ihre Arbeitsprozente für dieses Ausbildungsjahr etwas heruntergeschraubt. Danach müsse man weitersehen. Dass künftig wieder mehr Lernende den Weg auf den Hof Flue finden werden, ist die grosse Hoffnung von Therese Stöckli. Dass ihr die vielseitige Arbeit mit den jungen Erwachsenen und der Natur sehr viel bedeutet, ist beim Besuch deutlich spürbar.