Es schneit. Zum offenen Tor hinein sehe ich zwei Männer in warmer Kleidung. Sie stehen im Innenhof – nahe beieinander. Der eine erzählt, der andere hält die linke Hand an seinem Kinn und hört zu. Immer mal wieder nickt er. Ich bleibe einen Augenblick stehen, lasse das Bild der beiden Männer im wirbelnden Schneegestöber auf mich wirken und gehe dann durch das Tor in den Innenhof.
Dieses Bild, das sich so sehr in meinem Kopf eingeprägt hat, entstand vor rund vier Jahren. Es war eine Zeit, in der man noch am Küchentisch sass und sich nicht über Fallzahlen und Masken unterhielt, unabhängig davon, wie fest es draussen schneite. Ich war auf dem Hof von Jakob Nussbaumer in Lohn-Ammannsegg im Kanton Solothurn. Alois Wyss hatte mich eingeladen, bei seinem Besuch dabei zu sein. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Mir war nur bekannt, dass im darauffolgenden März auf eben diesem Hof eine Gant angesetzt war.
Hunderte Schicksale begleitet
Bauer Jakob Nussbaumer musste gehen. Den Hof, den er seit vielen Jahren in Pacht hatte, musste er hinter sich lassen – auch wenn sein Sohn Lukas gerne zugefahren wäre. Was mit dem Hof passieren würde, hat Köbi, wie er überall genannt wird, zu jenem Zeitpunkt nicht gewusst. All seine Bemühungen, es herauszufinden oder vielleicht doch noch ein paar Jahre bleiben zu können und seiner geliebten Arbeit im Stall und auf dem Feld nachzugehen, scheiterten. Es stand fest: Am 19. März 2019 ging schmerzlich zu Ende, was Köbi mit seiner Familie über viele Jahre hinweg aufgebaut hatte. Hier wurden seine Kinder geboren. Hier hatte er seine todkranke Frau gepflegt, die viel zu früh sterben musste. Hier hatte er mit seinen Händen, viel Herzblut und Fleiss die Lebensgrundlage für seine Familie erarbeitet.
«Diese Bäume habe ich alle gesetzt», sagte Köbi bei einem Rundgang über den Hof. Alois Wyss war still. Er wusste, dass es dazu nichts zu sagen gibt, denn so wertvoll diese Bäume für den Landwirt auch waren, versteigern konnte Wyss sie nicht. Sie sind nicht in Wert zu setzen. Im Stall war schnell einmal klar, hier ist ein Viehzüchter am Werk. «Ich hoffe, dass sie ein gutes Leben haben werden, dass sie in einen Stall kommen, wo man sie gerne hat», sagte Köbi. Alois blieb still. Er wusste, dass er dem Landwirt, der bald sein Lebenswerk aufgeben musste, auch das nicht versprechen konnte.
Wir gingen in die Küche. Köbi stellte uns Kaffee auf, dazu gab es die besten Schokolade-Pflaumen, die ich je gegessen habe. Köbi erzählte von seiner verstorbenen Frau, von seiner neuen kleinen Wohnung, von seinen Träumen, von seinen Kühen – vom Leben. Und Alois war still.
Hunderte solcher Schicksale hat Gantrufer Alois Wyss begleitet. Zehntausende Kühe hat er zugeschlagen. Unzählige solcher Besuche, wie diesen bei Jakob Nussbaumer, hat er gemacht. Er hat sich Zeit genommen, hat zugehört, hat geschwiegen und Anteil genommen, bevor er dann irgendwann aufstand und hinaus auf das Podest ging, um die ganze Existenz einer Familie – und damit deren Zukunft – in Bares umzuwandeln. Und dabei hat er nie aufgegeben. Er ging an seine Grenzen, manchmal vielleicht sogar darüber hinaus.
Schmerzliche Abschiede
In den Siebziger- und Achtzigerjahren fanden fast wöchentlich solche Steigerungen statt, wurden Existenzen in der Schweiz aufgegeben und im Ausland, oft in Kanada, wieder aufgebaut – begleitet von Hoffnung und Zuversicht, aber auch Unwissenheit und Angst. Denn damals, wie auch heute, ist eine Steigerung immer mit einem Abschied verbunden. Viele dieser Familien, die auswanderten oder aus anderen Gründen die Landwirtschaft in der Schweiz aufgaben, hatten Mitglieder, die unter dieser Veränderung stark litten. Und so richtig ein solcher Schritt für eine Familie auch sein mag oder mochte, die Unwiderruflichkeit macht die Sache endgültig und damit schwerwiegend.
Alois Wyss hat bei seiner Arbeit als Gantrufer viele Tränen gesehen und dabei vielen Menschen nicht versprechen können, dass das, was sie hier machen, irgendwann einmal gut kommt. Er wusste nicht, ob diese Verletzungen des Abschieds irgendwann verheilen würden.
Ich hatte das Glück, dass Alois Wyss mir am Küchentisch von Jakob Nussbaumer eine Welt eröffnete, die ich vorher nicht kannte. Ich nehme das Bild der beiden Männer in meiner Erinnerung mit. Zum ersten, zum zweiten und zum allerletzten Mal, Alois Wyss.