Es gibt keinen Neuschnee mehr», heisst ein Gedicht von Kurt Tucholsky, das in den 1930er-Jahren entstanden ist. Es handelt von einem, der immer höher klettert und meint, der coolste Kerl zu sein, und dann merkt, dass vor ihm schon einer da war – das zeigen ihm Spuren im Schnee. Fürwahr, wenn man die Augen offen hält und sich umschaut, hat immer einer die Idee vorher schon gehabt – oder gar realisiert. Das frustriert sogar den stärksten Kraftprotz – vielleicht packt ihn dann aber der Ehrgeiz, und er versteigt sich immer höher und höher. Vielleicht ignoriert er auch ganz einfach die Spuren, und geht davon aus, Neuschnee entdeckt zu haben.

«Es gibt keinen Neuschnee mehr»

Das gilt vielleicht auch für die Organisation Faire Märkte Schweiz (FMS). Ende Mai lancierte der Verein das Online-Portal «Lokal+fair», das Bäuerinnen und Bauern, Verarbeitungsbetriebe, Gewerbe und Gastronomie verknüpfen will. Aufgenommen werden Betriebe, die auf lokale Produkte setzen, wie es in ihrer Mitteilung heisst.

«Aha, kommt noch eine zu den ungefähr 100 bestehenden Plattformen dazu», meinte eine Kollegin und begann aufzuzählen, was es an Onlineplattformen für Direktvermarkter gibt: Vom Hof, Vom Milchpuur, Biomondo, Plattformen von kantonalen Bauernverbänden, von Naturpärken, von Agrotourismus oder von Regioprojekten, um nur einige zu nennen. Zudem gibt es Website mit Apps, die kommerzielle Ziele verfolgen und durchaus ein starkes Netzwerk zwischen Produzenten und Konsumenten aufbauen, wie zum Beispiel «saisonbox.ch».

Komplementär zu anderen Plattformen

Da fragt sich doch, ob all diese Plattformen dem Verein Faire Märkte Schweiz bekannt waren, als er sein Portal «Lokal+fair» gründete? «Ja, klar war uns das bewusst. Ich war selbst Gründungsgeschäftsführer einer Regionalmarke», sagt der geschäftsführende Präsident Stefan Flückiger. «Lokal+fair» sei komplementär zu anderen Initiativen. Es handle sich auch nicht nur um ein Onlineportal, sondern ein Projekt mit Vernetzungen, Aktivitäten vor Ort und einer Begleitkampagne. Die lokalen Akteure sollten mit einem gemeinsamen Ziel möglichst hohe Wertschöpfungsanteile erreichen.

Lokal bedeute für ihn, dass ein sinnvoller räumlicher Radius mit Vermarktungspotenzial eingehalten werde und Gemeinden lokale Netzwerkaktivitäten ermöglichten. «Ganz zentral ist die Sensibilisierung für den lokalen Einkauf. Damit leisten wir einen Beitrag zur Förderung und Ermöglichung eines nachhaltigen Einkaufsverhaltens», so Flückiger. Bisher beteiligten sich mit Uster und Stäfa schon zwei Zürcher Gemeinden. «Es werden sich weitere, auch Westschweizer Gemeinden melden, denn am 14. September findet der nationale Direktvermarktungstag von FMS statt.» Wie hoch das Budget für diese Aktivitäten ist, gibt Flückiger nicht bekannt.

«Überflüssig und bevormundend»

Ein «bisschen anders» als andere zu sein, überzeugt Ernst Lüthi nicht. Er ist, als Präsident des Fachzentrums Direktvermarktung des Schweizer Obstverbands und mit einem eigenen Hofladen in Höstein BL wohl einer der besten Kenner der Direktvermarktungsszene. Nächstens ist Lüthi unterwegs. Als Jurypräsident des Hofladen-Wettbewerbs, den der Schweizer Obstverband und die BauernZeitung ausgeschrieben haben. Er besucht mit seinen Jurykollegen eine Auswahl von Hofläden, die sich für den Wettbewerb «Wer hat den schönsten Hofladen?» beworben haben.

Lüthi hat wenig Verständnis für «lokal+fair» und findet es überflüssig – eigentlich sogar ein wenig bevormundend. Direktvermarktung sei per se lokal und fair. «Ob es sich um einen Radius von zwei, drei oder auch zehn Kilometern handelt. Aber es ist und bleibt eine Nische», sagt er und weiter: «Ich fühle mich als Direktvermarkter auch nicht unfair behandelt, denn ich mache den Preis.» Er bedauert, dass sich Faire Märkte Schweiz nicht auf sein Gründungsziel konzentriert und den Handel noch verstärkt unter die Lupe nimmt. «Wer liefert, macht in der übrigen Wirtschaft die Rechnung mit einer Zahlungsfrist von einem Monat.» Nur in der Landwirtschaft sei es umgekehrt. Wer Obst, Kartoffeln, Getreide oder Milch liefere, habe keinen Einfluss auf den Preis, oft sogar erstmal eine Akontozahlung mit einer Schlussabrechnung im kommenden Jahr. «Damit sollte sich Faire Märkte Schweiz mal befassen», findet Ernst Lüthi.

Das kann man so stehen lassen – und ob Faire Märkte Schweiz Lüthis Anliegen aufnimmt, ist nicht sicher. Auf alle Fälle wird der September ein guter Monat für Direktvermarkter. Am 14. September hat «lokal+fair» seinen Direktvermarktungstag und am 16. September findet im Rahmen der «Sichlete» auf dem Bundesplatz ein weiterer Grossanlass für Direktvermarkter statt: Dort kürt der Schweizer Obstverband zusammen mit der BauernZeitung den schönsten Hofladen.

Ich kann an dieser Stelle nur einen Aufruf starten und alle Onlineplattformen für Direktvermarktung auffordern, ihre Websites zu aktualisieren und sie mit Social Media zu verknüpfen, sodass möglichst viele Kunden den Weg in den Hofladen finden. Dann haben die Bauernfamilien, die dafür sehr viel Zeit, Geld, Know-how und Leidenschaft investieren, am meisten davon. Meistens bringt ein gut sichtbares Hofschild sowieso mehr, um Kunden für den Hofladen zu gewinnen. Das ist «lokal».