Seit Ihrer Silbermedaille an den Olympischen Spielen sind einige Monate vergangen.Wie haben Sie Ihr Leben seither erlebt?

Marlen Reusser: Aufregend. Gleichzeitig ging aber die Radsaison weiter mit diversen Rundfahrten, EM, WM. Daher war die Medaille nicht ein vereinzelter Höhepunkt, nachdem ich in ein Loch hätte fallen können. Es ging auch im Anschluss drunter und drüber.

Konnten Sie es überhaupt richtig realisieren ob all dem Trubel?

Doch, das konnte ich schon.

Wie sieht Ihr Trainingsplan im Winter aus?

Ich trainiere manchmal auch bei widrigen Verhältnissen draussen. Erquickend ist das natürlich nicht. Es gibt eine Temperaturuntergrenze, ab der es für Beine und Muskeln kritisch wird. Wenn es noch kälter ist, kann man nicht mehr gut in die Pedale treten und zum Beispiel auch keine Intervalle mehr trainieren. Dann gehe ich auch mal auf die Rolle. Mit meinem Team SD Worx und mit Swiss Cycling sind wir viel im Ausland. Ich finde es aber nicht gut, so viel zu fliegen. Daher gehe ich nicht immer mit oder versuche, lange vor Ort zu bleiben, um Flüge einzusparen.

Wo liegt denn die kritische Temperatur für die Beine?

Das hat auch viel mit Wind und Nässe zu tun, ob zum Beispiel eine aggressive Bise weht. Aber ich würde sagen, unter fünf Grad wird es unangenehm auf dem Rennrad.

Sie sind relativ spät in den Profisport gekommen. Sind Sie schon als Kind gerne und schnell Rad gefahren?

Nein, nicht besonders. Es gibt da diese Anekdote. Ich ging als Kind ins Nachbardorf reiten und musste mit dem Velo dahin. Da gab es einen kleinen Anstieg, den ich heute nicht mal wahrnehmen würde. Damals habe ich mich zuhause darüber beklagt, wie streng es sei, «diesen Berg hochfahren zu müssen». Im Gymnasium habe ich mit Laufsport begonnen und war dann polysportiv unterwegs. Wegen Problemen mit meinen Fussgelenken musste ich dann zunehmend aufs Schwimmen und das Velo wechseln.

Sie sind Ärztin – war es nicht schwierig, den weissen Kittel vorübergehend an den Haken zu hängen? Wie viel Mut hat es gebraucht, ganz auf den Sport zu setzen?

Eigentlich brauchte das keinen Mut. Ich habe das Studium erfolgreich beendet und kannjederzeit mit meiner Facharztausbildung weiterfahren. Der Stellenmarkt für Assistenzärztinnen und -ärzte ist sehr gut. Das heisst, ich konnte es einfach versuchen und wusste, wennes mit dem Sport nicht funktioniert, kann ich jederzeit wieder zurück. Für mich war esdeshalb auch kein Abwägen. Ich habe es einfach probiert und umso schöner, dass es nun sogut läuft.

Sie sind für den Sport – auch als finanziellen Gründen – zurück zu Ihren Eltern gezogen. Wie funktioniert das als gestandene Frau?

Ich habe grosses Glück. Meine Eltern und meine Familie sind tolle Menschen, darum hat das gut funktioniert. Und auch mein «fortgeschrittenes Alter» hat geholfen, weil wir nun eine ganz andere Ebene haben als mit 18. Jetzt haben wir eine Art WG. Meine Eltern sind sich ein volles Haus gewohnt. Früher hatten wir manchmal landwirtschaftliche Praktikanten – etwa aus Polen oder Tschechien – oder Schüler und Studenten auf unserem Betrieb. Meine Geschwister sind nun alle ausgezogen und daher schätzen es meine Eltern sogar, glaube ich, dass sie nicht ganzallein sind. Man muss aberauch sagen, dass ich wirklich vielweg bin.

Sie sind auf einem Bauernhof im Emmental aufgewachsen. Was für ein Hof ist das?

Es ist ein mittelgrosser Ackerbaubetrieb mit 18 Hektaren. Bis 2014 hatten wir noch rund 280 Mastschweine. Mein Vater hat immer in einem Teilzeitpensum auswärts gearbeitet. Früher hat er Allgemeinbildung für landwirtschaftliche Lehrlinge und betriebswirtschaftliche Fächer am Feusi Bildungszentrum in Bern unterrichtet. Nun ist er seit über zehn Jahren beim Bundesamt für Landwirtschaft in einem Teilzeitpensum angestellt.

Wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt?

Als Kind habe ich das nicht so bewertet, weil es einfach normal war. Aber so ein Bauernhof ist wie ein Märchenschloss mit vielen versteckten Nischen. Wir konnten uns mega austoben, das habe ich geschätzt. Und dann natürlich die Tiere … Schon als ich zwei Jahre alt war, haben wir Mini-Shetlandponys angeschafft und später ein Pferd. Das habe ich geliebt. Wenn es ums Helfen ging, war ich immer eher auf der Jammeri-Seite. Wir mussten weniger helfen als andere Bauernkinder, aber ich habe immer gesagt, es sei Kinderarbeit und ich würde mich bei der Gemeinde beschweren etc.

Was bedeutet Ihnen die Landwirtschaft heute?

Viel. Ich habe mir sogar schon überlegt, noch Agronomie zu studieren. Aber ich weiss gerade nicht so recht, wie und wann. Landwirtschaft – egal ob in der Schweiz oder global – ist etwas Elementares. Es geht um die Grundversorgung mit Lebensmitteln. Das könnte jetzt eine lange Diskussion werden, aber zum Teil ist da schon etwas der Wurm drin. Ich fände es wichtig, dass Normalo-Menschen ohne direkten Bezug zur Landwirtschaft deren Wert anerkennen würden und bereit wären, für Produkte einen angemessenen Preis zu zahlen und sich zu informieren, woher die Produkte genau stammen. Die Landwirtschaft sollte so gestaltet werden, dass es für alle Beteiligten stimmt. Für Umwelt, Tier und Menschen. Das ist eine Herkulesaufgabe.

Was wünschen Sie der Schweizer Landwirtschaft?

Faire Rahmenbedingungen und eine angemessene Entlöhnung. Dass die Menschen Freude haben an den Produkten der Bauernfamilien und bereit sind, dafür einen entsprechenden Preis zu bezahlen.

Worauf achten Sie beim Einkaufen?

Es kommt tatsächlich nicht mehr so oft vor, dass ich selbst einkaufen gehe. Ich bin während des Gymnasiums ausgezogen. Trotz dürftigem Budget habe ich schon damals alles auf dem Markt oder in Bioqualität eingekauft. Das war mir immer wichtig. Heute geben wir nicht mal mehr sieben Prozent unseres Einkommens für Lebensmittel aus. Der Wert von Nahrungsmitteln wird nicht mehr erkannt. Ich habe immer den grössten Teil meines Budgets für Lebensmittel ausgegeben und auch versucht, meine Mitmenschen dahingehend zu sensibilisieren. Ich würde kleinere Kreisläufe begrüssen, dass noch mehr regional produziert und über den Direktverkauf abgesetzt wird. Da haben beide Seiten etwas davon: Bäuerinnen und Bauern, Konsumentinnen und Konsumenten.

Sie sind schon seit IhrerJugend Vegetarierin undhaben sich in Ihrem Team dafür eingesetzt, dass nur noch Bioeier auf den Tisch kommen. Müssen Sie dafür oft rechtfertigen?

Ich bin schon seit über zwanzig Jahren Vegetarierin. In dieser Zeit hat es sich schon gewandelt. Früher war ich viel mehr die Exotin, wurde gelöchert, warum ich kein Fleisch esse, teilweise sogar etwas angegriffen. Heute ist es viel akzeptierter. Ich habe Zeiten erlebt, da bekam ich im Restaurant Salat mit Speckwürfeli serviert. Wenn ich dann sagte, das sei doch auch Fleisch, gab es Dinge wie Spaghetti mit Pommes Frites als Beilage. So etwas passiert heute nicht mehr, aber natürlich ist ein Verzicht auf Fleisch auch heute teilweise noch ein Diskussionspunkt. 

Zur Person

Marlen Reussers (30) grösste Erfolge sind die Silbermedaillen im Olympia‑Zeitfahren in Tokyo 2020 und an der WM im Zeitfahren 2020 und 2021. Dieses Jahr wurde sie Europameisterin im Zeitfahren und 2020 zur Schweizer Radsportlerin des Jahres gekürt. Die Bauerntochter ist Ärztin und war Präsidentin der Jungen Grünen des Kantons Bern.

Website: marlenreusser.com

Wie hat Ihr Umfeld reagiert, als Sie begonnen haben, auf Fleisch zu verzichten?

Meine Eltern dachten, auf Berndeutsch gesagt, es sei nur ein Furz. Eine Phase. Aber ich habe es durchgezogen. Es kam mir zugute, dass auch meine Geschwister kompliziert waren. Meine Schwester mag keinen Käse, mein Bruder ass kein Gemüse, keine Früchte und keine Kräuter. Das hat mir erlaubt, auch kompliziert zu sein. Das ist zumindest so eine Theorie in meinem Kopf, aber da müssten Sie meine Eltern fragen (lacht).

Sie sind dafür bekannt, sich einzusetzen für Dinge, die Ihnen am Herzen liegen und engagieren sich politisch. Woher kommt dieser Kampfgeist?

Das habe ich mich schon oft gefragt. Das ist sicher teilweise Charaktersache. Ich hatte schon immer einen starken Gerechtigkeitssinn, gerade bezogen auf die Umwelt. Aber im Gymnasium, als wir all diese Zusammenhänge gelernt haben, etwa im Geografie-Unterricht, wurde mein soziales Gewissen dann richtig wachgerüttelt.

Wo und wie kommen Sie zur Ruhe?

Mit guten Gesprächen, Zeit mit meinen Freunden. Da versuche ich bewusst mein Handy wegzulegen, weil es ein rechter Zeitfresser ist. Oder etwas Interessantes lesen, viel schlafen.

Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, dass Sie nicht religiös sind …

Gar nicht, genau.

Bedeutet Ihnen Weihnachten trotzdem etwas?

Ich finde Weihnachten als Ritual, als Zusammenkommen, sehr schön. Gleichzeitig kritisiere ich den Konsumwahn, der damit zusammenhängt. Wir haben es in unserer Familie aufgegeben, uns alle gegenseitig zu beschenken. Oder dann diese Festmahle, dass man so überbordet beim Einkaufen, nur für einen Tag.

Kurz gefragt

Ihre liebste Kuhrasse?

Ich habe keine Lieblingsrasse. Ich bin aber Kuh-Fan und freue mich, dass es so unterschiedliche Rassen auf unseren Weiden hat, auch mal etwas Exotisches wie ein Schottisches Hochlandrind. Generell bedeutet der Anblick von Schweizer Kühen auf unseren Weiden für mich ein Stück Heimat. Wenn ich bei einer belgischen Rundfahrt Kühe sehe, fällt mir auf, dass die ganz anders aussehen. Das sind für mich dann Fremde (lacht).

Liebste Traktormarke oder Landmaschine?

Da muss ich passen. Wir haben einen alten Fendt und einen uralten Fiat, ich war nie Fan einer bestimmten Marke.

Ihr grösster Ärger?

Ich ärgere mich selten. Vielleicht, wenn etwas am Velo nicht funktioniert und ich mein eigener Mech sein sollte. Ich habe ein sehr schönes Leben.

Ihr liebstes Reiseziel?

Keine bestimmte Destination. Es ist wichtiger, mit wem als wohin.

Sie haben Gäste. Was kommt auf den Tisch?

Ofengemüse mit gutem Käse.

Ihre kleinste grösste Sünde?

Da habe ich einige. Im Radsport muss man zum Beispiel immer schauen, was man isst, aber ich gönne mir trotzdem Desserts oder mal etwas Schoggi.

Chaotin oder Perfektionistin?

Eher Perfektionistin.

Mit wem (tot oder lebend) würden Sie gerne mal essen gehen?

(überlegt lange) Schwierige Frage. Vielleicht Leute aus verschiedenen Epochen, Gesellschaftsschichten und von verschiedenen Geschlechtern, um ein Einblick in deren Denken zu bekommen.

2021 in einem Satz?

(lacht) Da reicht ein Wort: Bombe!