Die Schweiz kennt ihn als Hanspeter Burri, als Bestatter Luc Conrad oder auch als Bauer Wermelinger. Mike Müller – Komiker, Schauspieler und Autor – ist in der Schweizer Kulturlandschaft eine Instanz. An einem Montagabend im Dezember treffen wir ihn backstage in der Mühle Hunziken zu unserem alljährlichen Promi-Weihnachtsinterview. Obwohl er in zwei Stunden vor ausverkauftem Haus auftreten wird, wirkt Müller entspannt. Das sei nicht immer so, verrät er uns, vor einer Premiere sei er sehr nervös.
Ihr Stück «Erbsache», mit dem Sie gerade unterwegs sind, dreht sich ums Erben. Sie haben in einem Interview gesagt, dass «sich über das Erben sehr viel Interessantes auf dem Land erzählen lässt».
Mike Müller: Bei den Recherchen zum Stück habe ich gemerkt, dass man immer vom Erben im eigenen Milieu spricht. Reiche Menschen reden anders darüber als Arme, Letztere finden eher, das interessiere sie eigentlich nicht, das sei ein Thema der Reichen. Man äussert sich in den Alpenkantonen anders als im Mittelland. Im Wallis sagen sie, «wir erben Arbeit und Viecher». Das finde ich zwar etwas geglättet, weil ich fast niemanden aus dem Wallis kenne, der nicht irgendwo ein, zwei Häuser oder Land hat. Im Mittelland sind wir die Landlosen, die vielleicht eine Firma erben, mit der es dann aber auch u huere kompliziert ist. Das komplizierteste Erbrecht – und gleichzeitig auch das tragischste – ist das bäuerliche. Allein, wenn ich mich für das Stück jetzt auf einen bäuerlichen Fall konzentriert hätte, was ich nicht wollte, weil ich nicht aus bäuerlichen Verhältnissen stamme, hätte man ganz viel erzählen können. Zum Beispiel zu Genderthemen, die heute ein Thema sind bei den Bauern, weil es Bauerntöchter gibt, die sagen, «ich bin schlauer als mein Bruder und möchte den Hof». In einigen Kantonen war es früher so, dass der älteste Sohn übernommen hat, in anderen der jüngste. Oder die ganzen Generationenkonflikte mit der älteren Generation, die den Jungen reinreden. Das passiert, wenn ein Erbe mehr ist als nur Geld.
Zur Person: Mike Müller
Mike Müller (60) ist Schauspieler und Autor. Nach der Matura 1984 studierte er anschliessend an der Universität Zürich Philosophie. 1983 gründete er mit Freunden die «Jugendtheatergruppe Olten». Mit Viktor Giacobbo war er von 2008 bis 2016 Host der wöchentlichen Late-Night-Show «Giacobbo/Müller» auf SRF 1. In sieben Staffeln spielte er in der SRF-Krimiserie «Der Bestatter» die Hauptrolle Luc Conrad. 2019 war er mit Viktor Giacobbo im Circus Knie unterwegs.
Sie haben die Materie genau recherchiert, weil Sie auf der Bühne «keinen Seich erzählen wollen». Machen Sie das immer?
Fast immer. Beim «Klassentreffen» war es zu meiner Verzweiflung fast unmöglich. Ich habe versucht zu recherchieren, ob es Gesellschaftsspiele für Klassentreffen gibt. So wenig Material hatte ich noch nie, schon bei einer simplen Google-Recherche. Ich habe dann mit Leuten in meinem Alter gesprochen, über ihre Sicht auf die Pensionierung, ihre Geschichte im Vergleich zu der ihrer Eltern usw. Aber mehr, um Stimmungen rauszuschmöcken, dafür musste ich jetzt nicht zu einem Pensionierungsspezialisten. Mir gefällt es, dass die Ausgangslage der Stoffe für die Stücke so unterschiedlich ist. Ich passe mich sehr gerne dem Stoff an, man muss dann aufmerksamer sein und schauen, was er hergibt. Bei der «Gemeindeversammlung» habe ich wenige Interviews geführt, eines mit zwei Gemeindepräsidenten, die fusioniert haben, eines mit einem Regierungsrat, der viele Gemeinden fusioniert hat. Das war beides sehr fruchtbar. Bei der «Erbsache» wäre es ohne die grosszügige Hilfe von Peter Breitschmid nicht gegangen. Er hat mich auch auf Literatur aufmerksam gemacht, wie auf das sehr nützliche Buch «Technik und Taktik im Zivilrecht». 600 Seiten juristische Literatur. Manchmal habe ich zugegebenermassen quergelesen.
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Eine Ihrer Figuren ist Bauer Wermelinger. Haben Sie für ihn irgendwie recherchiert oder hat er ein reales Vorbild?
Wenn man sich in der Schweiz von Bauern inspirieren lassen will, muss man eigentlich nicht recherchieren, finde ich, es reicht, wenn man die Augen offen hat. Man ist mit Bauern aufgewachsen oder befreundet oder war als Kind auf einem Hof in den Ferien. Was ich teilweise recherchiere, sind Tiernamen, Zuchtmunis oder Aussaattechniken oder wie eine Graswendermaschine wirklich heisst, welches Modell gut ist und welches nicht. Bauer ist ein Beruf, aber die Bauern sind auch ein Milieu. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie sich vom Bauer Wermelinger angegriffen gefühlt hätten, vor allem, da ich ihn ja auch nicht als Vollidioten spiele.
Sie sind vor Kurzem 60 geworden. Bedeutet Ihnen die Zahl etwas?
Nein, es ist eine Zahl, gesundheitlich wird es jetzt nicht unbedingt besser mit den Gelenken und so. Zwar haben mich viele Leute, auch Journalisten, gefragt, wie ich jetzt auf mein Leben zurückschaue. Aber weil ich das nicht tue, wusste ich gar nicht recht, wie ich diese Frage beantworten soll. Die Erinnerung täuscht einen auch gottsträflich. Natürlich habe ich ein Fest organisiert, fast schon aus Pflichtgefühl, weil mir Geburtstage wirklich nicht wichtig sind. Da hatte es Leute aus jeder Episode meines Lebens, auch von ganz früher, Freunde, mit denen ich damals die Theatergruppe Olten gegründet habe. Ich habe mir all diese Menschen angeschaut und gedacht, «das ist mein Leben und es ist super».
«Diese Menschen sind alles Sissis und Nature-Joghurts.»
Mike Müller über Leute, die anonym andere bedrohen – etwas, das er sehr gut kennt.
Sie nehmen politisch kein Blatt vor dem Mund und twittern gerne pointiert. Warum?
Ich habe mich schon immer politisch geäussert, in einem Stück macht man das natürlich anders als in einer Late-Night-Show wie mit Viktor Giacobbo. Neun Jahre lang haben wir jede Woche unseren Senf dazugegeben. Mal lustig, mal weniger lustiger. Was X (ehemals Twitter) angeht, verhaut sich der Vollidiot von Tech-Löli gerade aus purer Eitelkeit sein eigenes Business. Aber das ist halt so bei den Libertären. Es ist eine lustige Plattform, um sich gegenseitig an den Karren zu fahren. Ich finde, das muss auch möglich sein in einer politischen Auseinandersetzung. Ich finde es auch amüsant, dort Unsinn zu posten, daraus haben sich schon ganz lustige Bekanntschaften ergeben. Während der Pandemie wurde es schwierig, weil die Empörung obenaus geschossen ist und auch die Drohungen massiv wurden.
Hat man es in der Schweiz als Mann auf der Bühne einfacher? Ich nehme an, man bekommt keine Vergewaltigungsfantasien per E-Mail?
Das nicht, aber Gewalt- und Todesdrohungen durchaus. Auch Bodyshaming dem Teufel ein Ohr ab. Bei mir geht das natürlich in die entgegengesetzte Richtung als bei einer Meret Schneider. Ich finde schon, dass man da gesetzlich etwas durchgreifen dürfte. Es gibt einfach gewisse Grenzen. Die Drohungen kommen ja meist anonym, das sind nicht die mutigsten Menschen, wenn man sie dann konfrontiert, dann machen sie gleich in die Hose. Das sind alles Sissis und Nature-Joghurts. Ich bin 60, schon eine Weile dabei und teile selbst kräftig aus. Aber ich frage mich manchmal schon, wie es denn zum Beispiel für eine junge Frau sein muss, die frisch in die Politik geht.
Sie sind prominent. Was sagt Ihnen das oder was nervt Sie auch daran?
Es gehört halt zum Job. Erfolg bedeutet für mich, dass ich weiterarbeiten kann. Solange die Leute zu mir ins Theater kommen, bin ich happy. Und man muss natürlich nicht jahrelang Fernsehen machen, erst Late Night mit Viktor und dann als Bestatter der Nation durch den Aargau stampfen, und sich dann wundern, warum die Leute einen erkennen. Aber ich bin heute mit dem ÖV hier zu meinem Auftritt in die Mühle Hunziken gereist und mich hat keine einzige Person angesprochen. Schwierig kann es sein, wenn die Leute zu viel getrunken haben oder wenn sie beginnen, einen anzufassen. Das mag ich nicht. Ich habe zu Hause noch gelernt, dass man das nicht macht. Ich wurde auch schon von wildfremden Leuten geküsst. Da kann ich dann leicht erahnen, aber nur leicht, wie es prominenten Frauen gehen muss, die umarmt und geküsst werden.
«Das Verständnis für die Schweizer Bauern ist enorm gross.»
Zu den Bauern hat Mike Müller ein gutes Verhältnis, zur «Agrarlobby» etwas weniger.
Ihr Verhältnis zur Schweizer Landwirtschaft?
Wahrscheinlich ähnlich wie bei vielen Menschen in der Schweiz. Als Konsument bin ich sehr gerne nahe bei den Bauern. Zum Beispiel, was die grossen Unternehmen mit dem Fleisch machen, die können mir den Buckel herunterrutschen. Meine Fleischhändlerinnen in Zürich, die kennen jeden Betrieb, bei dem sie das Fleisch holen, und sie gehen mit dem Tier zu Fuss zum Metzger. Ich glaube, das Verständnis der Schweizer(innen) für die Landwirtschaft ist enorm gross, bis weit in linke und grüne Kreise. Aber das Verständnis für den Bauernverband am Gängelband von Economiesuisse, Gewerbeverband, Fenaco und Syngenta wird von Jahr zu Jahr kleiner. Ich glaube, der SBV läuft langsam in einen Hammer hinein. Das Fuder ist irgendwann überladen. Ich rede oft mit Leuten, wenn ich unterwegs bin, und denen ist es jeder Steuer-Franken für die Bauern wert, gerade für die Bergbauern und die Bauern in den voralpinen Hügelzonen, aber sicher nicht für die Agrochemie und jedes Jahr grössere Traktoren. Ich gönne es jedem Bauern auf einem 800-Pferder herumzufahren, aber ich weiss leider, was er kostet.
Wie wichtig ist es Ihnen, bewusst einzukaufen, zu kochen und zu konsumieren?
Ich bin sicher kein Chörnlipicker und es muss auch nicht alles Bio sein. Am wichtigsten ist mir fast, dass ich den Hof kenne. Das beste Beispiel ist ein Kopfsalat aus einem Hofladen. Wenn man den anhebt, denkt man erst mal, «ich wollte doch nur einen, hängt da noch etwas daran?» Der ist so schwer und bleibt tagelang frisch. Den Nüsslisalat vom Markt kann ich eine Woche lang im Kühlschrank haben, während der aus dem Migros am Escher-Wyss-Platz schon nach der Hälfte des Wegs verwelkt ist.
Dieses Interview erscheint in unserer Weihnachtsausgabe. Was bedeutet Ihnen das Fest?
Nicht wahnsinnig viel (lacht).