Ob Geisterabwehr oder Glück: Im Volksglauben werden Misteln viele Kräfte nachgesagt. In unserer Zeit haben die immergrünen Zweige mit den weissen Beeren als Adventsdekoration einen festen Platz. In der Medizin sind Mistelpräparate die mit Abstand am häufigsten eingesetzten pflanzlichen Arzneimittel.

«Die Misteltherapie ist eine Methode der anthroposophisch erweiterten Medizin», erklärt Ursula Wolf. Sie ist Direktorin des Instituts für Komplementäre und Integrative Medizin an der Universität Bern. «Die Therapie wird bei Krebserkrankungen ergänzend zu den konventionellen onkologischen Behandlungen eingesetzt und ist ein wesentlicher Bestandteil einer ganzheitlichen, integrativen Krebstherapie.» Mistelpräparate werden aber auch bei Autoimmunerkrankungen verwendet, etwa in der Rheumatologie.

Unterstützt die Therapie

Mehr als zwei Drittel der Krebspatientinnen und -patienten wenden heute neben den konventionellen Therapieverfahren zusätzlich auch Arzneimittel und Verfahren aus der Komplementärmedizin an. Die Grundversicherung vergütet die Mistelpräparate zweier Hersteller, wenn sie ärztlich verordnet werden.

[IMG 2]

Die Misteltherapie eignet sich für Menschen jeden Alters und bei allen Tumorarten. «Idealerweise beginnt man möglichst bald nachdem die Krebserkrankung bekannt ist», erklärt Ursula Wolf. Oft wird sie parallel zu Chemo- oder Bestrahlungstherapie eingesetzt. «Aber man kann auch Jahre später beginnen.» Nicht angewendet werden darf die Misteltherapie bei akuten Leukämien sowie akuten fieberhaften Infekten und bei akuter Tuberkulose.

Hilft bei der Tumorzerstörung

Doch wie wirkt die Pflanze? Mistelpräparate enthalten verschiedene Wirkstoffe, unter anderem die Hauptbestandteile Mistellektine und Viscotoxine. Eine Misteltherapie unterstützt die Tumorzerstörung, stärkt die Selbstheilungskräfte, mindert die Nebenwirkungen von Chemotherapie und Bestrahlungstherapie und verbessert die Lebensqualität. Ursula Wolf: «So werden beispielsweise der Schlaf und die Stimmung besser. Zudem nimmt die körperliche, mentale und geistige Leistungsfähigkeit zu.»

Gute Studienlage

«Inzwischen gibt es mehr als 150 klinische Studien zur Anwendung von Mistelpräparaten bei verschiedenen Tumorarten und über 90 Prozent dieser Studien beschrieben eine positive Wirkung der Misteltherapie», erklärt Ursula Wolf weiter. Die Mistelpräparate sind das am besten erforschte komplementärmedizinische Arzneimittel in der Onkologie in Europa. «Aufgrund der positiven Studienresultate wurde die Misteltherapie auch in onkologische Leitlinien aufgenommen.»

In der Schweiz ist die Misteltherapie seit 1995 im Einsatz. Seit rund 15 Jahren nimmt die Zahl der Patientinnen und Patienten jedes Jahr zu, «ohne Werbung», wie Ursula Wolf betont. Inzwischen gibt es Spitäler und Arztpraxen in der ganzen Schweiz, die Misteltherapie anbieten.

Positive Rückmeldungen

Rückmeldungen von Patientinnen und Patienten zeigen zudem, dass die Misteln von den Betroffenen gut akzeptiert werden. Viele wenden sie über Jahre an, obwohl sie sich die Präparate unter die Haut spritzen müssen. Ursula Wolf hat unter anderem Rückmeldungen von Patienten, die Chemotherapie-Zyklen und Bestrahlungen besser vertrugen.

Die Mistel-Arzneimittel spritzen sich die Patientinnen und Patienten selbst unter die Haut. Das sei leicht zu erlernen, sagt Ursula Wolf. Misteltee oder -tinktur sind nicht geeignet. «Die Injektionen sind nötig, weil bei einer Einnahme durch den Mund die Inhaltsstoffe der Mistelpräparate durch die Verdauungssäfte zerstört werden.»

Über die Website der Vereinigung anthroposophisch orientierter Ärzte VAOAS findet man Praxen, die Misteltherapie anbieten: www.vaoas.ch

Gefahr für Bäume

Seit bald 20 Jahren breitet sich die Mistel in der Schweiz massiv aus. Der Halbschmarotzer gefährdet vor allem alte Hochstamm-Apfelbäume. Junge Bäume sind wenig betroffen. Fachleute vermuten, dass regelmässige Pflege ein Hauptgrund dafür ist.

Verschiedene Vogelarten übertragen die Mistel, vor allem aber Misteldrosseln, die sich im Winter oft von den weissen Beeren ernähren. Einmal auf einem Baum etabliert, betreibt die Mistel zum einen Fotosynthese. Zum anderen entzieht sie dem Wirtsbaum Wasser und Nährsalze und schwächt ihn dadurch.

«Misteln auf Apfel- und Birnenbäumen sollten deshalb konsequent entfernt werden», empfiehlt daher die Vereinigung Fructus. Seien Bäume nur mit einzelnen Misteln befallen, könnten sie mit wenig Aufwand saniert werden, erklärt Fructus in einem Merkblatt. «Eine regelmässige Kontrolle der Bäume ist dabei sehr wichtig, da auf diese Weise die Misteln bereits als Keimlinge und Jungpflanzen entdeckt und entfernt werden können.» Später würde sich die Mistel in den Leitungsbahnen des Wirtes ausbreiten, was die Bekämpfung wesentlich erschwere.