In der Schweizer Landwirtschaft besteht nach wie vor ein deutliches Geschlechterungleichgewicht – auch schon in der Ausbildung. Nur 23 Prozent der Absolventinnen der Grundbildung sind Frauen, bei den Betriebsleitenden sind es gar nur 7,3 Prozent. Um dem entgegenzuwirken, haben die HAFL, Agridea und das Inforama einen neuen Leitfaden für geschlechtergerechten Unterricht entwickelt. Er soll die landwirtschaftlichen Schulen und Lehrpersonen dabei unterstützen, Sprache, Bildmaterial und Unterrichtspraxis so zu gestalten, dass Vielfalt und Chancengleichheit gefördert werden. Die BauernZeitung hat mit Sandra Contzen, langjährige Dozentin für Agrarsoziologie an der HAFL, gesprochen.
Welche Beobachtungen oder Erfahrungen haben Sie und Ihr Team dazu veranlasst, dieses Thema zu untersuchen?
Sandra Contzen: Der Hauptgrund ist, dass ich mich seit rund 20 Jahren mit Geschlechterfragen in der Landwirtschaft beschäftige und immer wieder feststelle, dass es kaum vorwärtsgeht, die Entwicklung ist sehr langsam. Bildung spielt dabei eine grosse Rolle. Frauen gehen weniger in technische Berufe – einerseits, weil Vorbilder fehlen, andererseits, weil sie sich durch die Art und Weise, wie der Unterricht gestaltet ist, nicht angesprochen oder gesehen fühlen. Ein Schlüsselmoment war eine Studentin, die in einer Semesterarbeit einen Teil der Ausbildungsunterlagen für Landwirt/in EFZ und für die Bildung Bäuerin – bäuerlicher Haushaltleiter untersucht hat.
«Wenn Frauen nicht vorkommen, fühlen sie sich ausgeschlossen.»
Sandra Contzen über die Wichtigkeit von Geschlechtergerechtigkeit in der Berufsbildung.
Sie stellte fest, dass Frauen in den EFZ-Unterlagen praktisch nicht vorkommen, und in den Unterlagen der Bäuerinnenausbildung nur in der Rolle als Bäuerin. Die Betriebsleiterin, die Züchterin, die Chefin gab es nicht – das war immer der Mann. Darum wollten wir ein grösseres Projekt starten, um einerseits empirisch zu untersuchen, ob ein Geschlechter-Ungleichgewicht in Sprache, Bildern und Rollen tatsächlich besteht, und andererseits, um konkrete Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Denn manchmal glauben es die Leute erst, wenn Zahlen vorliegen. Die Ergebnisse der empirischen Analyse werden wir voraussichtlich noch diesen Herbst publizieren. Den Leitfaden haben wir nun priorisiert.
Welches zentrale Ziel verfolgen Sie mit dem Leitfaden?
Wir wollten uns nicht auf der Analyse ausruhen, sondern klar aufzeigen, wie man im Unterricht geschlechtergerechter werden kann – sei es sprachlich, in Bildern oder in der Unterrichtspraxis. Dafür haben wir Workshops mit Lehrpersonen durchgeführt und den Leitfaden in enger Zusammenarbeit mit einer Begleitgruppe entwickelt. Dort waren Schulleitende, Vertreterinnen und Vertreter der Schulleitendenkonferenz, der Bildungskonferenz Bäuerin, der OdA AgriAliForm und von Agriprof beteiligt. Gemeinsam haben wir Ideen entworfen, die in Workshops mit interessierten Lehrpersonen weiterentwickelt wurden. Diese haben den Leitfaden nachher getestet, sich selbst im Unterricht beobachtet und anschliessend Rückmeldungen gegeben. Auf dieser Basis wurde er finalisiert und nun gestreut.[IMG 2]
Warum spielt geschlechtergerechte Sprache in der landwirtschaftlichen Ausbildung eine so zentrale Rolle?
Die psychologische Bildungsforschung und die Genderforschung zeigen klar: Wer nicht angesprochen wird, fühlt sich ausgeschlossen. Frauen reagieren hier besonders stark. Wenn wir in typisch «männlichen» Berufen nur vom Betriebsleiter oder vom Landwirt sprechen, fühlen sich Frauen nicht angesprochen. Frauen müssen sich im Durchschnitt stärker angesprochen fühlen als Männer, damit sie sich trauen und das Gefühl haben, dass auch für sie Platz ist. Das sind unterbewusste Mechanismen. Studien zeigen, dass geschlechterungerechte Sprache das untervertretene Geschlecht und ganz besonders Frauen ausschliesst. Wenn wir mehr Betriebsleiterinnen und aktive Landwirtinnen wollen, muss sich also die Sprache ändern. Heute machen 20 Prozent Frauen die Lehre als Landwirtin EFZ, aber nur gut 7 Prozent sind später Betriebsleiterinnen – da verlieren wir Frauen auf dem Weg. Einerseits, weil sie sich nicht trauen, andererseits, weil die ältere Generation auch nur den «Landwirt» oder «Betriebsleiter» sieht. Sprache trägt dazu bei, ob Frauen in Köpfen vorkommen – oder nicht. Die Schule ist ein Ort, an dem wir damit anfangen müssen.
Im Leitfaden wird die Bildsprache betont. Können Sie ein Beispiel nennen, wie Bilder oder Videos unbewusst Geschlechterstereotype verstärken können?
Bilder prägen Rollen noch stärker als Sprache. Wenn eine Frau im Video putzt, denkt man sofort: «Frauenjob». Auf dem Traktor dagegen sieht man fast nur Männer. Oder: Obwohl es in der Realität viele Tierärztinnen gibt, zeigen die Unterlagen meist den männlichen Tierarzt. Ein besonders deutliches Beispiel war ein Bild zur Hofübergabe, das wir gefunden haben: Im Vordergrund der junge Übernehmer und der Vater, optimistisch in die Zukunft blickend. Die Altbäuerin steht im Hintergrund. Damit wird visuell ganz klar gezeigt, wer Macht hat und welche Rolle Frauen spielen. Auch auffällig: Sehr oft sind es ältere Männer mit weissen Haaren, die Autorität darstellen. Hier muss man viel bewusster darauf achten, Stereotype nicht zu zementieren.
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Das Ganze steht und fällt mit den Lehrpersonen. Welche Reaktionen haben Sie erhalten?
Direktes negatives Feedback war selten. In einem Onlineworkshop gab es zwei Lehrpersonen, die sagten, das brauche es nicht, ein Mann und eine Frau. Einzelne Frauen meinten, sie hätten sich selbst nie minderwertig gefühlt. Aber für die Mehrheit ist es eben so, dass sie sich ausgeschlossen fühlen, wenn sie nicht angesprochen werden – oft unbewusst. Von einem Lehrer kam die Rückmeldung: «Wir haben ganz andere Herausforderungen, als uns jetzt noch mit diesem Genderzeugs zu befassen.» Ein anderer Lehrer meinte aber auch, die Lernenden seien heute schon viel offener, da sie geschlechtergerechte Sprache aus der Schule gewohnt seien. Auch bei meinen eigenen Kindern sehe ich das.
Welche Herausforderungen bestehen für Lehrpersonen, wenn es darum geht, Stereotype im Unterricht aktiv zu hinterfragen und abzubauen?
Ein Problem sind Schulbücher. Viele Unterlagen sind gegeben, aber nicht alle. Mit der Edition LMZ haben wir erreicht, dass die neue Materialien im Rahmen der Revision der Grundbildung bewusst geschlechtergerecht überarbeitet werden. Bei der letzten Überarbeitung vor ein paar Jahren wurden Änderungen bezüglich mehr Geschlechtergerechtigkeit, eingefügt von den Lektorierenden, von Autorinnen und Autoren aber teils wieder rückgängig gemacht – da braucht es klare Vorgaben durch den Verlag. Schwieriger ist die Bildfrage: Gute Bilder sind teuer, und dafür fehlt oft Geld. In der höheren Berufsbildung werden viele Unterlagen selbst erstellt – dort muss man darauf achten, dass Bäuerinnen auch andere Rollen sehen, etwa die Möglichkeit, den gleichen Abschluss wie ein Meisterlandwirt zu machen.
Es geht nicht darum, zwanghaft beide Geschlechter zu nennen, zum Beispiel: In einem Raum voller männlicher Lernenden muss man nicht ständig von «Schülerinnen» reden, aber man kann in den Unterlagen dennoch auch Frauen zeigen, die als «typisch männlich» geltende Arbeiten verrichten. Man kann auch mit Abwechslung arbeiten: einmal männliche Beispiele, einmal weibliche. Oder eine Folie nur weiblich, die nächste nur männlich. Oder in Schulbüchern dreht sich ein Kapitel um «Stefan, der Lernende», das nächste um «Anna, die Betriebsleiterin». Wichtig ist, dass beides vorkommt.
Der Leitfaden betont die Vorbildfunktion der Schulleitung. Wie kann eine Institution diese Rolle glaubwürdig ausfüllen?
Wir haben das Thema an der Schulleitendenkonferenz vorgestellt. Wenn die Schulleitung und Bildungsverantwortliche das Thema ernst nehmen und bei Weiterbildungen aufgreifen, hat das eine grosse Wirkung. Wenn sie hingegen nicht dahinterstehen, ist es sehr schwierig – zwingen können wir niemanden.
Warum war es Ihnen wichtig, auch gute, schon existierende Praxisbeispiele in den Leitfaden einzubauen?
Wir wollten nicht defizitorientiert arbeiten, sondern auf dem aufbauen, was schon da ist. Gute Beispiele zeigen, dass geschlechtergerechter Unterricht möglich ist. Und sie motivieren eher, als wenn man nur Kritik äussert oder die Leute das Gefühl haben, das Thema werde jetzt von oben nach unten von der HAFL verordnet.
Wie stellen Sie sicher, dass der Leitfaden nicht nur gelesen, sondern nachhaltig genutzt wird?
Seit eineinhalb Jahren sensibilisieren wir Schulleitungen. Wir wollen an jeder Schule eine Art Götti oder Gotte fürs Thema. Und wir werden die Lehrpersonen zusätzlich mit einfachen Mitteln wie Postkarten an den Leitfaden erinnern. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit Edition LMZ. Wenn die offiziellen Lehrmittel geschlechtergerecht sind, kommt das irgendwann auch bei den Lehrpersonen an. Und an der HAFL bilden wir künftige Berufsschullehrpersonen aus – diese Generation wollen wir von Anfang an mitnehmen.
Welche Veränderungen in der Geschlechtergerechtigkeit in der Landwirtschaft erhoffen Sie sich in zehn Jahren?
Ich wünsche mir, dass keine Frau, die Landwirtin lernt, mehr sagen muss, sie sei wegen ihres Geschlechts diskriminiert worden oder habe dumme Sprüche gehört – weder von Mitschülern noch von Lehrpersonen oder Lehrmeistern. Das höre und lese ich heute noch viel. Ich hoffe, dass der Leitfaden genutzt wird und Lehrpersonen unterstützt. Und dass er auch kritische Lehrpersonen motiviert, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Wenn es gelingt, dass Frauen selbstverständlicher als Betriebsleiterinnen oder Landwirtinnen sichtbar werden, wäre das ein grosser Schritt.
Die BauernZeitung fragt: Was sagen Sie als Lehrperson zum neuen Leitfaden für geschlechtergerechte Bildung?
Ein wertvolles Instrument
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Regula Hauenstein, Strickhof (ZH)
Wir erachten den neuen Leitfaden als wertvolles Instrument, das zur Sensibilisierung beiträgt und konkrete Impulse für die Unterrichtspraxis liefert. An einer Klausur möchte ich den Leitfaden mit unseren Lehrpersonen vertiefen. Am Strickhof setzen wir uns bereits heute für Geschlechtergerechtigkeit ein. Der Frauenanteil hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen – sowohl bei den Lehrpersonen als auch bei den Lernenden. Beim QV wechseln wir bewusst zwischen männlichen und weiblichen Formulierungen ab. Ebenso achten wir bei der Bildsprache darauf, dass beide Geschlechter ausgewogen dargestellt werden.
Schon seit längerem auf diesem Weg
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Reto Spörri, Liebegg (AG)
In der Grundbildung Landwirtschaft beträgt der Frauenanteil im Aargau seit Jahren zwischen 20 und 25 %. Am LZ Liebegg wird bereits seit längerem auf geschlechtergerechte Formulierungen und eine sensibilisierte Bildsprache geachtet, und für die Lehrpersonen ist es Routine, den Unterricht entsprechend zu gestalten. Unsere Schulkultur ist somit seit längerer Zeit auf diesem Weg, weshalb wir keinen grossen Handlungsbedarf sehen. Der Leitfaden wurde nach dem ersten Entwurf bereits allen Lehrpersonen kommuniziert und wird in den kommenden Schulkonferenzen nochmals thematisiert.
Männliche und weibliche Beispiele
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Eva Fürst, Wallierhof (SO)
In der Landwirtschaft und im Unterricht sind Geschlechterrollen - und stereotype ab und zu vorhanden. In Lehrmitteln und auf Arbeitsblättern finden sich teilweise nur männliche Berufsbezeichnungen, obwohl es schon verhältnismässige viele Tierärztinnen und auch immer mehr Landwirtinnen hat. Auch Bilder zeigen oft männliche Personen. Im Unterricht verwende ich bewusst abwechselnd männliche und weibliche Beispiele. Den Leitfaden finde ich sehr wichtig und gelungen. Da ich bei den Workshops zur Erstellung mithelfen durfte, nutze ich ihn schon länger. Besonders hilfreich sind die konkreten Beispiele für die Praxis.