"Du musst nicht zu gut schauen, ich bin noch nicht dazu gekommen, nach dem Käsen aufzuräumen." Berti Wandfluh verwirft die Hände und marschiert an der Rauchküche vorbei in die Stube. Herrlich kühl sei es dort an so heissen Tagen wie heute, hatte ihr Mann Ernst Wandfluh angekündigt. Kühl und gemütlich. Vor lauter "brichten" sei sie heute noch zu nichts gekommen, sagt Berti und räumt den Stubentisch frei. Aber sie geniesst den Besuch. Genauso, wie sie es genossen hat, dass am Mittag eine Schulklasse aus Frutigen am Tisch sass, die dabei hilft, Steine vom letzten Winter aus den Matten an der Ueschine zu tragen.
Das Leben in den Bergen
Doch diesen Sommer wird es noch viel aufzuräumen geben. Neben dem Haus graben nämlich die Bagger und legen Strom und Wasser ein. Das Quellwasser sei hier schon manchmal knapp geworden, räumt Berti ein. Und wenn man guten Käse machen wolle, brauche es viel gutes Wasser. Dann greift sie in den Schrank neben sich und holt die Alpmulchetaxierungen hervor. "Immer 20 Punkte, ausser im ersten Jahr, da wollten sie mir zeigen, dass man nicht von Anfang an alles kann", zwinkert sie und legt die Blätter aus. Seit 1991 feinsäuberlich sortiert. Überredet habe man sie damals, dass sie sich doch zur Taxation anmelde. Dabei wusste Berti, dass sie gut käsen kann und gewissenhaft ist. Seit ihrem 15. Lebensjahr steht sie am Kessi. Nur als die Kinder klein waren, habe sie eine Pause gemacht, erinnert sie sich. Mit 21 Jahren heiratete sie, hatte drei Kinder, zwei Töchter und den Jüngsten, einen Sohn. Ernst Wandfluh junior, der heute den Betrieb bewirtschaftet. Es ist das Leben in den Bergen, das Berti zu der Frau gemacht hat, die sie heute ist, fadengrad und zäh. Und sie erzählt einige dieser Geschichten. Angefangen damals, mit 18 Jahren, als sie mit ihrem Vater beim Heuen war und dieser tot zusammenbrach. "Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie ich nach den Wanderern schrie, sie sollen Hilfe holen." Berti wischt eine Träne ab.
"Sie kamen und sind irgendwie geblieben."
Berti Wandfluh, pensionierte Bergbäuerin
Die Liebe zu den Menschen
Still wird es jeweils auch, wenn Berti Wandfluh an den Schäfelerversammlungen aufsteht und ihre dezidierte Meinung kundtut. Auch wenn sie sich damit nicht nur immer Freunde macht. Das scheut sie nicht. Sie, die mit Schafen aufgewachsen ist, züchtet bis heute Schafe der Rasse Schwarz-Braunes Bergschaf (SBS) und engagiert sich seit 50 Jahren als Zuchtbuchführerin. Und sie war die erste Frau im Vorstand des Verbands Bernischer Schafzuchtvereine. Kurz darauf wurde sie auch in den Vorstand des Schweizerischen Schafzuchtverbands gewählt. Das, was dort im Moment abläuft, gibt ihr zu denken. Aber irgendwie nicht mehr so sehr wie früher, als sie durch alle Böden hindurch für den Erhalt der Widderschauen gekämpft hat. Ihr geht es um die Sache, um die Kameradschaft, um die Schafe. Wenn es menschelt, schüttelt sie nur leise den Kopf. Denn sie mag Menschen. Alle. Vor allem hat sie sich um sozial schwächere und einsame Menschen gekümmert. «Das hat sich einfach so ergeben, sie kamen und sind irgendwie geblieben. Platz hatten wir ja und zu Essen auch», sinnt sie zurück und lächelt. Dann erzählt sie von ihrem Zwillingsbruder, der eine Hirnblutung hatte und den sie bis zu seinem Tod begleitete. Und wie sie als Kind schon in den Bergen den Schafen ihrer Eltern nachstieg und sich schwor: "Schafe werde ich ganz bestimmt nie haben." Und so erzählt sie dann auch mehr von den Menschen rund um die Schafe, denn von den Schafen selbst. Ihre Liebe zu den Menschen und die Herzlichkeit sind es, die es möglich machen, dass sie noch heute Schafe sömmert. Und natürlich die grosse Unterstützung der Familie, ohne die ginge es nicht mehr. Vielleicht ist es auch ein bisschen Sturheit, dass sie immer noch dort durchkraxelt wo sonst nur Gämsen und verirrte Wanderer durchkommen.
Kein Schaf verlieren
Der Weg zu einer Schafweide muss jedoch wieder neu erstellt werden, erklärt Ernst Wandfluh junior. Der Weg ist aufgrund eines Unwetters mehrere Hundert Meter hinuntergerutscht – doch Umwege halten Berti nicht auf. Beatrice, die Frau von Ernst Wandfluh ergänzt: "Wenn Berti zu den Schafen geht, dann muss man zuweilen länger auf ihre Rückkehr warten." Das war früher so und ist es heute auch noch. «Ich würde gerne einmal einen ganzen Sommer lang kein Schaf verlieren», erzählt Berti später vor dem Haus und zeigt auf die steilen Seiten an der Ueschine. Dort sind die Schafe verteilt, welche ihr zur Sömmerung anvertraut werden. Knapp 400 Tiere. Früher waren es hundert mehr. Im besten Sommer habe sie nur eines verloren. Früher hätten an der Ueschine 1600 Schafe geweidet, erzählt ihr Sohn. Das war vor Bertis Zeit und die Tiere hätten damals dann doch zuwenig Futter gefunden, heisse es in den Chroniken.
Die Seele erfreuen
Heute finden nicht nur Schafe dort ihr Futter, sondern auch ein Luchs. «Man erzählt sich im Dorf, er sei dort gesehen worden», weiss ein Freund von Berti, der ebenfalls auf einen kurzen Besuch vorbeikommt und die neuen Elektroleitungen bewundern möchte. Doch dafür hat nun Berti kein Gehör mehr. Der Luchs bei ihren Schafen. "Da muss ich dann gleich morgen zu ihnen und schauen, ob noch alle da sind", meint sie energisch. Kein leichtes Unterfangen an den felsigen und bewaldeten Hängen, selbst wenn man noch nicht wie Berti 75 Jahre alt ist. Doch sie hat Freunde, Helfer und eben die Familie und dafür ist sie dankbar. Natürlich erledige sie nicht mehr alles selbst, bekomme Hilfe von den Schafbesitzern. Berti weiss, ewig geht sie nicht mehr z Bärg. Doch daran will sie nicht denken. Noch mag sie und noch erfreut sie sich an den Bergen, den Menschen, den Tieren und den schönen Geranien vor dem Alphüttli. "Hier oben ist das ein Luxus", schmunzelt sie, "aber einer, der die Seele erfreut".
Internet und Computer
Aber der verträumte Augenblick dauert nur kurz. "Der Tisch und die Stühle vor dem Häuschen, das habe man ihr früher gesagt, gehöre sich nicht für eine Bäuerin". Aber das müsse auch sein zwischendurch. Absitzen, geniessen und tief durchatmen in der frischen Bergluft. Weniger ruhig hat es Berti, wenn Schafschau ist, wo sie als Zuchtbuchführerin der Draht zur Aussenwelt ist. Zwar habe man ihr gesagt, das mit dem Internet und dem Computer lerne sie dann wohl nicht mehr. Doch sie winkt wieder einmal ab: "Das ist doch Unsinn, auch wenn ich nicht mehr die Jüngste bin, kann ich dazulernen". Und denjenigen in ihrer Genossenschaft, die ihre Schafe nicht selbst online erfassen, hilft sie gerne. Das sei doch selbstverständlich. Doch die Überalterung in der Schafzucht macht ihr Sorgen. Sie wünscht sich, dass sich wieder mehr Junge für das Schäfelen begeistern. Aber sie weiss auch: Das Umfeld ist alles andere als gut und der Arbeitsaufwand ist mit dem Wolf so gross geworden, dass vor allem die Hobbyhalter aussteigen.
Bären und Beeren
Doch fürs Sinnieren ist jetzt nicht die Zeit. Immer wieder schaut Berti rüber an den Hang, wo vielleicht gerade ein Luchs eines ihrer Schafe frisst. Stundenlang sei sie dort früher mit ihrem Border Collie an der Seite herumgewandert, habe die Stille und die Bergwelt genossen. Entsprechend kennt sie das Gebiet wie ihre Hosentasche. Manchmal seien es auch Wanderer, welche den Zaun offen lassen, den Viehhüter abstellen oder ihre Hunde die Schafe hetzen lassen, erzählt sie von den Sorgen der modernen Schafhaltung. Deswegen schreibt sie Schilder und hängt sie an den Zäunen auf. Mit mässigem Erfolg, das ist ihr bewusst. Doch gegen den Luchs ist sie gänzlich machtlos. Sogar einen Bären habe sie im vergangenen Sommer gesehen, schildert sie lebhaft.
Heiter und lebensfroh
Dann verschwindet Berti in der Hütte. Vor dem Fototermin will sie sich noch kämmen. Ungekämmt steht Berti Wandfluh vielleicht am Käsekessi oder klettert ihren Schafen hinterher, aber so kommt sie nicht in der Zeitung. Die Kette um ihren Hals und die Bluse haben Stil und passen zum offenen Geist der weltgewandten und fröhlichen Berti Wandfluh. Weder hart noch verbittert hat sie das bescheidene Leben in den Bergen gemacht. Aber dankbar und standhaft. Und stolz darauf, was sie alles erreicht hat mit ihrem Lebensmut. Ihr Blick geht nach oben und sie zeigt auf die Russflecken, dort, wo früher die Petrollampe hing, bevor die Solarpanels und jetzt der neue Stromanschluss kamen. Und wieder lacht sie ihr lebensfrohes Lachen, denkt an die heiteren Abende am Stubentisch, bei Petrollicht. Schöner als hier sei es nur in der Inneren Ueschine, wo sie in diesen Tagen mit ihren Kühen hinzügeln, wenn es auf der Vorweide kein Gras mehr hat.