Im Gespräch mit Priska Fleischlin, der Geschäftsführerin der Organisation Wohn- und Betreuungsangebote in Familien, kurz «Wobe», erklärt die Fachfrau, was es für die Betreuung und Beschäftigung von Erwachsenen braucht und warum sich ein privater Haushalt im ländlichen Raum oder ein Bauernbetrieb optimal für das betreute Wohnen und die Tagesstruktur eignet.

Frau Fleischlin, wie verbreitet ist die Praxis, Erwachsene mit psychischen Erkrankungen und/oder kognitiven Behinderungen auf einem landwirtschaftlichen Betrieb zu betreuen?

Priska Fleischlin: Im Kanton Bern verfügen rund 400 Gastfamilien eine Bewilligung zur Betreuung von Kinder oder Erwachsenen.  Wie viele davon landwirtschaftliche Betriebe sind, ist allerdings nicht bekannt. Leider gibt es auch keine aktuellen und genauen Angaben über die gesamtschweizerische Anzahl solcher Betriebe. In einigen Kantonen sind die Gastfamilien verpflichtet, mit einer Organisation zusammenzuarbeiten in anderen, wie beispielsweise dem Kanton Bern, ist es freiwillig.

Mit wie vielen Familien arbeitet die Organisation Wobe aktuell zusammen?

Das sind aktuell rund 160 Gastfamilien - der grösste Teil unserer Partner sind Bauernfamilien.

Ähnliche Angebote und Anlaufstellen finden Sie hier:
- Stifung Landwirtschaft und Behinderte LUB
- Verein Care Farming Schweiz
- Stiftung Terra Vecchia
- Organisation Projekt Alp

Was müsste sich Ihrer Ansicht nach ändern, damit die Anzahl Angebote von Gastfamilien steigen würde?

Bekanntheitsgrad erhöhen: Grundsätzlich finde ich, dass jeder Haushalt in der Schweiz das Angebot kennen sollte. Auf der Angebotsseite helfen sicher Artikel in Fachzeitungen wie dieser, dass die Bekanntheit bei den Anbietern steigt. Zudem sollten auch die Sozialdienste und andere zuständige Stellen gut über die vielfältigen Angebote informiert sein.

Auch Politiker und Politikerinnen sollten dieses kostengünstige, nachhaltige und ganzheitliche Angebot in politischen Entscheiden einbinden und z.B. die Finanzierung im Pensionsalter ermöglichen.

Finanzierung: Apropos Kosten: die Finanzierung der Betreuung durch die Gastfamilien ist kantonal sehr unterschiedlich. Von der «Wobe» setzen wir uns dafür ein, dass die Gastfamilien entsprechend dem Aufwand und eine faire Entschädigung von der zahlenden Stelle erhalten. Viele der involvierten Dienste verlangen zu Recht eine individuelle, gute und sorgsame Begleitung. Damit Gastfamilien dies anbieten, muss eine Entschädigung stimmig und der bürokratische Aufwand tief sein.

«Wichtig ist, dass die generierten Einnahmen durch die Betreuungsarbeit nicht tragend für den Betrieb sein dürfen.» 

Priska Fleischlin, Geschäftsführerin Wobe

Inwiefern werden denn die Familien für ihre Betreuungsarbeit entschädigt?

Die Finanzierung läuft grösstenteils über die Invalidenversicherung sowie die Ergänzungsleistungen. Je nach Kanton, kann beim Kanton eine Kostenbeteiligung beantragt werden. Andere Finanzierungsquellen sind die Sozialhilfe, Stiftungen oder in seltenen Fällen gibt’s eine Selbstfinanzierung.

Was ist für eine interessierte Person/Familie wichtig zu wissen?

Als erstes möchte ich klären, dass wir mit «Familie» alle Wohnformen meinen, die nicht eine Institution oder eine Mietwohnung sind. Das heisst, auch Einzelpersonen, Mehrgenerationen-Haushalte oder homosexuelle Paare sind willkommen.

Wichtig ist, dass sich interessierte Familien überlegen, was sie anbieten wollen. Sind dies einzelne Tage für eine Tagesstruktur, Ferien/Wochenenden oder dauerhaftes Wohnen. Zudem ist ein zentraler Gedanke, welcher sich die Familien machen sollten:

  • Mit welchen Bedürfnissen der Gäste können sie gut und mit welchen weniger gut umgehen?

  • Stört es mich, wenn jemand depressiv ist?

  • Was ist, wenn jemand nicht lesen und schreiben kann und Hilfe beim Gang aufs WC braucht, kann ich damit umgehen?

Wichtig ist, dass die Familie bestimmt, welches Angebot sie anbieten wollen und was zu ihnen passt. Dann kommt das Formelle: Für das Betreute Wohnen (Wochenende, Ferien, dauerhaft) ist es unerlässlich, dass die Familie eine gesetzliche Bewilligung auf der zuständigen Kantons- oder Gemeindeebene einholt. Für das Tagesstrukturangebot ist keine Bewilligung notwendig. Nebst den Formalitäten braucht eine Familie den nötigen Platz, also ein separates Zimmer aber auch Zeit, Geduld und der Wunsch sowie die Fähigkeit, Menschen zu betreuen. Viele Gastfamilie sagen, wir haben Platz im Herz und im Haus.

Hier finden Sie eine Wegleitung des Schweizer Bauernverbands zum Thema.

Wichtig ist, dass die generierten Einnahmen nicht tragend für den Betrieb sein dürfen. Entscheidet sich eine Familie für die professionelle Begleitung durch eine Familienplatzorgainisation, wie die «Wobe», so ist es obligatorisch, an unserem Informationsnachmittag in Bern teilzunehmen. Anschliessend klärt die Organisation bei einem Besuch ab, ob sie mit der Familie zusammenarbeiten will oder nicht. In der nachfolgenden Begleitung von Gästen sind Weiterbildungen, individuelle Beratung und Unterstützung im Betreuungsalltag durch die Beraterinnen und Berater der «Wobe» inbegriffen.

Was sind die Voraussetzungen, um sich als Gastfamilie anzubieten?
Als Gastfamilie sind Sie:
- unter 65 Jahre alt
- interessiert an Menschen und möchten eine soziale Dienstleistung anbieten
- bereit und offen, Gäste in ihren Familienalltag zu integrieren
- bereit, die durch ihre Beeinträchtigung bedingten Besonderheiten der Gäste zu berücksichtigen
- sich bewusst, dass die Bereitschaft Gäste aufzunehmen und zu begleiten, Veränderungen und Neues in ihren Alltag und das Familienleben einbringen können
- bereit, sich auszutauschen und weiterzubilden